Ein bisschen surreal ist es schon: Gerade hat Lionel Martin in zwanzig hochkonzentrierten Minuten die Jury davon überzeugen müssen, dass er ein richtig gutes Instrument als Leihgabe verdient hat. Jetzt sitzen wir zum Gespräch in einem unspektakulär kleinen Raum des Hamburger Museums für Kunst und Gewerbe. Um uns: Kisten und Koffer mit eben jenen Instrumenten, die am nächsten Tag, nach dem Ende der Wertungsspiele, ihre neuen Besitzer auf Zeit bekommen sollen. Was diese schmucklosen Kästen für einen finanziellen Wert in sich verstecken, kann man sich in diesem nüchternen Ambiente gar nicht vorstellen. Lionel will sich sowieso noch nichts vorstellen, „lieber keine Erwartungen haben“, meint der 14-Jährige vorsichtig. Falls es denn klappt, hofft er auf ein Instrument mit einem runderen Klang, denn sein jetziges ist „in der Höhe recht scharf“.
Der jährliche Wettbewerb des Deutschen Musikinstrumentenfonds ist nichts für schwache Nerven, dafür umso spannender für das Publikum, das an diesem Februarwochenende in Scharen in den Spiegelsaal des Museums strömt, um den jungen Musikern zuzuhören. Hier spielen die Solisten von morgen, mit einem Bein schon im Konzertleben und doch auch noch am Anfang ihrer Karriere. Die Bewerbungsvoraussetzung ist ein erster Bundespreis bei „Jugend Musiziert“ in der Solowertung oder ein vergleichbarer Erfolg bei einem anderen renommierten Wettbewerb, bewerben kann man sich ab 12. Kein Wunder, dass manche bei der großen Konkurrenz hier Bogenzittern bekommen. Die meisten aber sind Bühnentiere, fühlen sich wohl im Rampenlicht, das merkt man. Viele der jungen Musiker kennen sich, von Meisterkursen, Wettbewerben, aus den Hochschulen. Heute konkurrieren sie um die gleichen Instrumente. Eine stressige Situation.
Bei diesem Wettbewerb geht es nicht um Ehre oder Preisgelder, sondern um Karrierebeschleuniger, Möglich-Macher – um Spitzeninstrumente, die sich so gut wie niemand und schon gar keine jungen Musiker leisten könnten. Eine Stradivari oder Guarneri zu spielen, macht sich nicht nur gut im Lebenslauf, sondern vor allem ermöglicht ein solches Instrument den Musikern, ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen und nicht am „Material“ zu scheitern – an dumpfen Tiefen, nicht angehenden Flageoletts, an einem matten Klang oder unschönen Störgeräuschen. Doch nicht nur die alten Spitzeninstrumente, auch die günstigeren, neu gebauten Instrumente sind für viele unerschwinglich: „40.000 Euro für eine neu gebaute Geige ist ja auch kein Pappenstiel; das ist auch für Eltern, die recht ordentlich verdienen, nicht so zu machen“, sagt Irene Schulte-Hillen, die Präsidentin der Deutschen Stiftung Musikleben. Dieses gravierende Problem für Nachwuchskünstler versucht die Stiftung mit ihrem Fonds – zumindest auf Zeit – zu lösen. Für die Begabtesten der Begabten.
„Gönner für Könner“: der Deutsche Musikinstrumentenfonds
Die Stipendiaten, die sich hier ein Instrument erspielen, können regelmäßig um eine Leihverlängerung vorspielen – bis 30, dann ist Schluss. Aber bis dahin hat die Karriere bei den meisten eh längst gezündet, dann haben sich viele eine gute Orchesterstelle erspielt oder stehen stabil im Solo- oder Kammermusikleben. Dass sich die Chance auf eine solche Leihgabe später im Leben noch einmal ergibt, etwa durch eine andere Stiftung, ist möglich, aber nicht sehr wahrscheinlich. Daher rät Juror Ulf Wallin, die Zeit als Stipendiat auch zu nutzen, um sich ein eigenes Instrument anzuschaffen, denn „wer glaubt, dass man dann mit 30 irgendwie von oben ein Instrument geschenkt bekommt, ist naiv“. Neu gebaute Instrumente sind für viele Musiker inzwischen eine „tolle Alternative“, sagt Jurorin Barbara Buntrock dazu. „Der Fond fügt nach und nach Neubauten hinzu, weil die inzwischen vom Niveau her oft mit den alten Instrumenten vergleichbar sind – und: Sie sind bezahlbar.“
Die 19-jährige Roberta Verna aus Würzburg hat das erste Jahr mit einem Instrument der Stiftung bereits hinter sich und spielt diesmal um die Leihverlängerung. Letztes Jahr hat sie den Jackpot beim Wettbewerb gewonnen: eine Stradivari. Ein mythenumrankter Name, auch wenn es wertvollere Instrumente im Fonds gibt. Beim Vorspiel auf der kleinen Bühne des Spiegelsaals wirkt sie souverän und ruhig, sogar bei der virtuosen Carmen-Fantasie von Sarasate. Man hört die Qualität ihres Instruments, so wie man überhaupt im Wechsel von Neubewerbern und Leihverlängerern deutlich die Unterschiede zwischen den wirklich guten Instrumenten des Fonds und den meist weniger guten Instrumenten aus Privatbesitz erkennt.
Roberta Verna über ihre Stradivari
Der Druck beim Vorspiel hat es in sich, sagt Roberta nach ihrem Auftritt. „Nach einem Jahr mit der Stradivari denkt man sich schon: Ich muss der Jury beweisen, dass ich es wert bin, dieses Instrument zu spielen.“ Der Kennenlernprozess mit der Geige war gar nicht so einfach: „Wir sind immer noch dabei, uns aneinander zu gewöhnen. Man muss sich selbst total umstellen, denn die Geige reagiert ganz genau auf winzige Details der Klanggebung. Die Farbpalette ist viel größer als bei meiner früheren Geige, aber man muss wirklich lernen, wie man diese Farben aus ihr herausholt“. Wie sie den Charakter ihre Stradivari beschreiben würde? Roberta schaut auf die zierliche Geige und überlegt. „Ihr Ton glitzert total, aber sie ist auch tiefgründig. Die tiefen Saiten klingen wie Honig, dickflüssig, die oberen wie flüssiges Gold, sehr weich.“ Es muss sich merkwürdig anfühlen, im Alltag plötzlich mit einer Stradivari unterwegs zu sein, in Zügen, auf Flughäfen. „Man hat immer Angst, dass etwas passiert“, gibt Roberta zu. „Aber man muss einfach gut aufpassen. Man gewöhnt sich daran. Aber bei der Übergabe, als ich das Instrument das erste Mal in der Hand hatte und für den Fotografen posierte, dachte ich die ganze Zeit nur: Bitte, bitte, lass sie jetzt nicht fallen“, sagt sie und lacht.
Welche Charaktere passen zusammen?
Sonntagnachmittag: In einem Foyer des Museums warten die Musiker auf die Bekanntgabe der Ergebnisse. Die Zeit zieht sich wie Kaugummi, die Jurymitglieder Peter Buck, Tanja Becker-Bender, Barbara Buntrock, Bernhard Gmelin und Ulf Wallin diskutieren lange. Nervosität liegt in der Luft, Hoffnung, Angst. Die fünf Juroren haben keine leichte Aufgabe: Denn nicht nur die Interpreten, sondern auch die Instrumente haben unterschiedliche Charaktere, wie Juror Ulf Wallin betont. Und die müssen zusammenpassen. Vor den Wertungsspielen muss die Jury daher erst einmal die verfügbaren Instrumente kennen lernen. Sie werden für die Jury angespielt, „und man spielt auch selbst und merkt dabei natürlich schnell, ob sie gut ansprechen oder eher schwierig zu spielen sind,“ sagt Buntrock. Andere Kollegen hören dabei von außen zu und geben Feedback, zum Beispiel ob das Instrument gut im Saal trägt.
Sowohl die Instrumente als auch die Teilnehmer des Wettbewerbs werden von der Jury mit Punkten bewertet, aber die Zuordnung erfolgt am Schluss nicht eins zu eins. Denn verschiedene Aspekte spielen eine Rolle bei der Vergabe der Instrumente, zum Beispiel – ganz pragmatisch – die Körpergröße: „Es bringt ja nichts, wenn ich jemand Kleinem, der kurze Arme hat, eine riesige Bratsche gebe, die er dann gar nicht spielen kann“, sagt Buntrock. Und fügt noch hinzu: „Es gibt schon auch den Unterschied zwischen einem Talent, das sich ganz toll entwickelt und in das man viele Hoffnungen setzt, und denen, die wirklich schon auf dem Sprung zur Weltkarriere sind – also die, die schon eine Entwicklung durchgemacht haben und bei denen man schon eine große musikalische Reife merkt. Das macht schon Sinn, denen dann die Topinstrumente in die Hand zu geben“.
Dann geht es los: In kleinen Gruppen oder nacheinander werden die Musiker zur Jury gerufen, manche kommen mit gesenktem Blick und leeren Händen wieder heraus. Die meisten aber mit einem etwas ungläubigen Lächeln und einem kleinen Zettel in der Hand: Darauf steht der Name „ihres“ neuen Instruments, Joseph Gagliano zum Beispiel oder Santo Seraphin. Die Musiker kennen diese Instrumente noch nicht, haben nie auf ihnen gespielt. Der Kennenlernprozess kann beginnen. Aber zuerst geht es nebenan zu den Juristen und Versicherungsagenten, bei Minderjährigen unterschreiben die Eltern, alles wird haargenau geregelt, damit die Instrumente am Abend wirklich direkt mit nach Hause genommen werden können.
Drei Stunden später stehen einige der Musiker dann wieder auf der Bühne. Das Abschlusskonzert ist auch und vor allem ein gesellschaftliches Event: Im Publikum sitzen viele der Stifter, manche überreichen bei der offiziellen Übergabe selbst das Instrument aus ihrem Familienbesitz an den glücklichen Stipendiaten und freuen sich. Im Konzert werden die Jüngsten und die Besten präsentiert, die Aushängeschilder der Stiftung – von der 12-jährigen Clara Shen, die sich eine Geige von Carlo Antonio Testore aus Mailand von 1740 erspielt hat, bis zum ARD-Wettbewerbs-Preisträger Andrei Ionita, der seine Leihgabe verlängern konnte. Viele Bravourstücke sind dabei, es erinnert ein wenig an ein Klassenvorspiel in den Hochschulen, aber auf atemberaubenden Niveau. Auch Lionel Martin hat es geschafft: Er spielt ab sofort ein wertvolles Cello von Niccolò Bianchi von 1871 und musiziert – noch auf seinem bisherigen Cello – nun den letzten Satz des Haydn-C-Dur-Konzerts beim Preisträgerkonzert.
Am späten Abend, während sich einige Gönner beim Empfang im Museum noch zufrieden zuprosten, schlüpfen die meisten der Musiker aus ihrem schicken Konzertoutfit und wieder in ihre Alltagsklamotten und machen sich auf den Heimweg. Hamburg ist inzwischen unter einer dicken Decke Pulverschnee versunken. Am Hauptbahnhof fährt der ICE nach Berlin ein und nimmt mit den Wartenden auch einige der jungen Musiker in sich auf. Sie sind mit einem Kasten gekommen und fahren mit zwei wieder nach Hause: dem treuen, alten, gut bekannten Instrument und dem neuen, unbekannten, verheißungsvollen.