Von Max Rosenthal, 06.02.2018

Verlorene Paradiese

Die Musik muss für Max Rosenthal machen, was nur die Musik machen kann, nämlich auf unbeschreibliche Art Ernst und Schönheit zusammenschnüren. Eine romantisch angehauchte Playlist, mit einer Prise Heavy Metal.

Am Anfang von so einer persönlichen Playlist bekennt man sich meistens erstmal, offen oder verdeckt. Keiner soll schließlich überrascht sein, in welche Untiefen oder -höhen es plötzlich geht, wenn jemand seinen privaten Geschmack offenlegt. Deshalb: Ich verehre die musikalische Inszenierung von Sehnsucht und das tragische Schöne. Dabei muss es nicht unbedingt dramatisch sein, manchmal macht sogar eine besondere Einfachheit die Wirkung. Je näher, je greifbarer mir die Musik das Paradies und das Happy End bringt, und je unerreichbarer es am Ende ist, desto besser.

Nichts könnte die Playlist deshalb besser eröffnen als der dritte Satz („Ruhevoll“) aus Gustav Mahlers Vierter Sinfonie . Die Unerreichbarkeit des Letzten, Ewigen hat Mahler oft beschäftigt, aber nirgendwo hat er sie schöner komponiert als hier. Gegen die brechende Ironie der Sätze eins, zwei und vier versucht dieser – mit begrenztem Erfolg – in einem Moment des Glücks alles Störende draußen zu halten. Claudio Abbado zieht den Glücksmoment mit den Wiener Philharmonikern in fantastische Länge.



Der Entstehungskontext einer Komposition ist oft entscheidend, um ihr tragisches Element voll zu entfalten. Als zweites steht auf meiner Liste das Finale von Beethovens Liederzyklus „An die ferne Geliebte“, „Nimm sie hin denn, diese Lieder“. Das mag überraschen, wirkt die Sehnsucht hier eigentlich wie eine bürgerliche Umsetzung des mittelhochdeutschen Minnelieds 271 : Die Geliebte ist unerreichbar fern, aber eigentlich ist es nicht so schlimm, schließlich kommen wir in Dur und Fortissimo raus.

  1. Früher war einiges anders, auch heutige Klischees waren verdreht. Denken wir heute an die stereotype Verteilung in Beziehungen, meinen wir, dass der Mann beruflich besser gestellt ist. Im 12. Jahrhundert galt das Begehren höher gestellten Frauen, die mit Gesang unter dem Fensterbrett vokal beglückt wurden: der Minnesang. Diese hochrituelle Liebeslyrik hat sich später in Form von Wettkämpfen gesteigert, wer kunstvoller gesungen hat, hatte den Größeren. Was lernen wir aus solchen Turnieren? (CW)

Doch der Liederzyklus ist dem Fürsten Lobkowitz gewidmet, der gerade seine geliebte Gattin verloren hatte. Eventuell hat der Fürst ihn sogar selbst gesungen. Mit diesem Wissen wird ein anderes Lied daraus. Der merkwürdig euphorische Schluss bekommt dadurch einen starken Bruch, und vor allem das Vorspiel sagt für mich in dieser Aufnahme mit Fischer-Dieskau bereits alles. Ganz ähnlich das Adagio aus Mendelssohns Quartett op. 80, das als inoffizielles Requiem auf seine Schwester Fanny gehandelt wird. Der Satz ist traurig-schöne Erinnerung inmitten der im Quartett vorherrschenden Erregung – stellenweise so intim, dass es wirkt, als ginge er kurz von der öffentlichen Bühne, um nur mit Fanny, mit ihr allein zu sprechen.

„Was mir aus der vollen Brust/ Ohne Kunstgepräng erklungen/ Nur der Sehnsucht sich bewusst.“

L. v. Beethoven – „An die ferne Geliebte“

Das schöne Tragische

Ästhetisch andersrum geht es aber auch: Das schöne Tragische statt dem tragischen Schönen funktioniert ebensogut. Da muss natürlich jetzt Schubert kommen, der das am simpelsten und direktesten in seinem Lied „Der Tod und das Mädchen“ getroffen hat. Vor allem wenn Sänger wie Kurt Moll am Ende das tiefe statt dem hohen D nehmen, erschüttert es mich.

Vergleichbar und doch ganz anders wirkt die Steinigungsszene (Nr. 8) in Mendelssohns „Paulus“ durch ihre unerschütterlich-religiöse Würde im Angesicht des grausamen Steinigungstodes. Würde hat auch der „Trauermarsch“ vom gleichen Komponisten. Und es muss ja nicht immer ums Sterben gehen, auch die sonst so schöne Liebe kann sehr zusetzen. Der herrliche Song „And So It Goes“ von Billy Joel trifft genau den Nerv, zwischen traurig und schön, zwischen Treue und Verletzlichkeit, zwischen einfacher Akkordbegleitung und allgegenwärtigen Vorhalten.

Ab und zu aber doch auch mal Prestissimo

Bei all dem Gefühl muss man sich aber auch manchmal erden, man kann ja nicht nur ständig andächtig kontemplieren. Das gelingt mir am besten durch rasende Geschwindigkeiten und treibende, ununterbrochene Rhythmen. Im klassischen Repertoire kann das z.B. Glenn Gould mit Händels Suite 88 Nr. 3 in d-Moll, daraus die Air 200 mit Variationen und schließlich das Presto. Die Steigerung ist da ganz wichtig! Und in Nicht-Klassik verkörpert das natürlich am besten der Heavy Metal, versinnbildlicht hier am In Flames-Klassiker „Clayman“. Achtung, Lautstärke niedriger stellen.

  1. Wenn Komponisten Stücke wie Allemande, Courante und Gigue in einer Suite bündelten, dann waren diese barocken Tänze der alten Adelshöfe nicht mehr für das Tanzparkett bestimmt, sondern für den Konzertsaal. Aber auch die musikalischen Highlights aus Ballett und Oper finden in der kondensierten Form der Suite ihren Weg auf die Konzertpodien. (AV)

  2. Der Begriff ist irreführend, mit Airbags oder Airports hat die barocke Satzbezeichnung Air nichts zu tun. Air bedeutet schlicht Melodie oder Lied und ist eng verwandt mit den englischen Ayres für Gesang und Laute. Berühmt geworden ist das wunderschön kitschige Air aus Johann Sebastian Bachs dritter Orchestersuite. (AJ)

© Helena/flickr.com/CC BY 2.0


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