Von Malte Hemmerich, 12.12.2017

An die Substanz

Seit letztes Jahr seine Oper „South Pole" in München über die Bühne ging, und er damit weit über das Neue Musik-Ghetto hinaus bekannt wurde, kann Miroslav Srnka machen, was er will. Bei den „Dialogen" in Salzburg steht er nun im Mittelpunkt, ist Nachfolger von Wolfgang Rihm. Ein Gespräch über Kritiker, Popularisierung und warum Srnka darüber nachdenkt, keine Interviews mehr zu geben.

niusic: Sie komponieren eine Oper, die im ewigen Eis spielt, und den Monolog einer Frau, die an Krebs erkrankt ist. Mögen Sie persönlich Extremsituationen?

Miroslav Srnka: Nein, würde ich nicht sagen. Andererseits sind es ja diese besonderen Situationen, an die wir uns erinnern. Das macht unser Leben aus, daraus ziehen wir Lehren für unser weiteres Sein. Und je weniger dieser Erfahrungen wir haben, desto leerer scheint unser Leben. Ich rede nicht vom Bungeesprung des Extremabenteurers. Nein, Extremsituationen sind kleiner. Die Stärke der zeitgenössischen Musik heute ist es, diese Extreme in kleinen, scheinbar normalen Situationen und im Innenleben zu suchen. Gutgemachte Musik kann also den Effekt eines Bungeesprungkicks haben.

niusic: Falls die Wahrnehmung dafür geschärft ist. Wenn Sie im Programm sagen, dass sie von Vogelschwärmen inspiriert wurden, ist dann die Gefahr nicht groß, dass Zuhörer bei Ihrem Stück nur an Vögel denken ... Ist das „Wahrnehmung schärfen“?

Srnka: Die Gefahr ist, dass das Werk darauf reduziert wird. Sehen wir den Vorteil: Es ist ein guter Einstiegspunkt. Das ist heute so wichtig. In der Zeit der Geschwindigkeit und der digitalen Medien werden das Anhalten und Hinhören immer schwerer.
Nehmen Sie den Maler William Turner. Eines seiner Bilder hing in einer Galerie neben einem wichtigen Werk von seinem Rivalen John Constable. Turner fand, dass im Vergleich sein Werk öde und grau wirkt. Er ging dann zu seinem Bild und malte einen roten Fleck darauf, eine Boje. Heute lebt das Bild ohne den Vergleich. Doch die Boje macht es schärfer und mehrdimensionierter. Das typisch Turnerische ist jetzt besser wahrzunehmen. In der Musik ist also die Frage, wie ich den Zuhörer mit einem Anhaltspunkt auf das Werk und nichts anderes fokussiere. Ich glaube, unserer Gesellschaft fehlt es daran, wieder konzentriert nachzudenken, um vorwärts zu kommen. Das zu ändern, ist eine große Aufgabe.

niusic: Genau das, eine große Aufgabe, war auch Ihre Oper „South Pole". Ihr großer Durchbruch. Möchten Sie überhaupt noch zum zigsten Mal darüber sprechen?

Srnka: (lacht ...) Jetzt schreiben Sie bestimmt: lacht und dann diese drei Punkte.

„Was für ein breites Opernpublikum extrem neu sein kann, grenzt in der Komponisten-Community an Verrat.“

Miroslav Srnka

niusic: Ist es Ihr wichtigstes Werk?

Srnka: „South Pole" ist mein Durchbruchswerk und hat mich aus dem Ghetto der zeitgenössischen Musik herausgeholt. Und nun führt es dazu, dass Menschen das Werk beleuchten, was ich vorher geschaffen habe, wie jetzt hier in Salzburg. Dafür kann ich dankbar sein. Scheinbar braucht es in der heutigen Mediengesellschaft immer einen Hype, und der Fokus auf die eigentliche Substanz wird kleiner. So etwas habe ich nun erlebt, und es war eine interessante Erfahrung. Ich werde jetzt nicht den Vergleich zwischen Arthausfilm und Blockbuster ziehen, aber natürlich mag so ein Stück wie „My Life Without Me“, dieser Monolog der krebskranken Frau, viel intimer und vielen näher sein als eine Oper am Südpol.

niusic: Das Stück zeigt eine Frau, die eine seltsame Bucketlist vor ihrem Tod abarbeitet, und ist für die Sopranistin an der Grenze des Machbaren. Haben Sie es für eine spezielle Stimme geschrieben?

Srnka: Ich glaube noch an den universellen Code einer Partitur, sodass das Stück immer reproduzierbar ist. Stilistisch bleibe ich offen. Ich kann es mir sowohl mit einer klassischen Sopranistin, als auch mit einer – wohl verstärkten – Stimmkünstlerin vorstellen. In dieser Komposition braucht jede Phrase so viel Gestaltung, da wird es natürlich von Sängerin zu Sängerin anders. Laura Aikin hat mir immer Sprachnachrichten geschickt, wenn sie geübt hat ...

niusic: Auch die Frau in „My Life Without Me“ nimmt am Ende Nachrichten für ihre Verwandten auf. Da wird Ihre Musiksprache aber ganz schön romantisch ...

Srnka: Ha, romantisch ist so ein Wort. Ich komponiere den Moment, in dem sie die Zeit vergisst, aus der sie kommt. Sie konserviert ihr Leben sozusagen auf Tonband für die Geburtstage ihrer Töchter und sie inszeniert sich nicht mehr – dieser Augenblick wird 25 Minuten vorbereitet, und dann wird das Material gnadenlos zerschnitten. Für mich ist wichtig, dass es am Anfang still ist und die Struktur absolut einfach und simpel. Natürlich kann das, je nach Interpretation, ins Romantische gehen. Diese „Gefahr“ gehe ich in dem Moment ein, wo ich reduziere und alle „Zeitgenössischen Mittel“ beiseite lasse.

niusic: Was durchaus abgelehnt werden kann in der Szene. Gab es auch Kollegenkritik an „South Pole", in diese Richtung gehend?

Srnka: Die Lobesreden waren lauter. Aber ja, Kritik von Kollegen gibt es. Ist auch total ok. Meist geht sie aber in die Richtung: „Du hattest die Chance, im inneren Betrieb etwas zu machen, und hast die Grenzen nicht gesprengt.“ Was für ein breites Opernpublikum extrem neu sein kann, grenzt in der Komponisten-Community an Verrat.



niusic: Immerhin sind Sie nun ein Komponist, der von seinem Handwerk leben kann.

Srnka: Es ist immer eine Querfinanzierung aus unterschiedlichen Aufträgen. Aber ja, seit circa sechseinhalb Jahren kann ich vom Komponieren leben.

niusic: Das ist doch was Besonderes in der Branche, oder?

Srnka: Ja? Ne. Weiß ich nicht. Man darf halt keinen exzessiven Lebensstil haben. (lacht) Ich versuche sowieso, nicht allzu viel zu brauchen. Dann kann man sich auf das Wesentliche konzentrieren.

niusic: Und wieso wollen Sie sich nun trotz des Erfolgs neu definieren?

Srnka: Man muss sich andauernd selbst befragen, besonders nach Sachen wie „South Pole", wo man in Versuchung kommt, zweimal ins selbe Boot zu steigen. Auch weil andere Menschen das wollen.
Stattdessen braucht man neue Quellen. Wissen Sie, Sänger haben ihr ganzes Leben lang Vocal Coaches, auch wenn sie bereits Stars sind. So möchte ich das auch halten, mich mit kritischen und respektvollen Menschen auseinandersetzen und meine Grundlagen immer neu befragen.

niusic: Wären Sie dann vielleicht auch gern ein politischer Künstler?

Srnka: „Wären Sie gern“ ist leider eine irrelevante Kategorie. Ich bin ein politischer Mensch, aber nicht primär politischer Künstler. Ich versuche, Werte zu eruieren in meinen Werken. Paradoxerweise bin ich politisch geworden durch meine Kammer-Oper „Make No Noise“. Da sind Flüchtlinge Thema, aber die Oper wurde vor der Krise geschrieben. Aber so kann man politisch sein: Kein Einspringen auf gerade jetzt populäre Themen, das bringt wenig. Aber wir müssen Themen erforschen, in denen wir gesellschaftliche Defizite sehen. Ob wir dann gerade aktuell sind oder nicht, sollte zweitrangig sein, sonst ist es nur leer, plakativ und ohne Wirkung.

„Das Festival hat sich große Mühe gegeben, jedes Programm absolut genau abzustimmen. Ein Ringen um jedes Stück. Keine Zufälle. Dann können sich erstaunliche gemeinsame Räume erschließen.“

Srnka über das Festival „Dialoge" in Salzburg

niusic: Koppelt man Ihre Werke eigentlich oft mit den gleichen Komponisten?

Srnka: Ja, mit Janáček. Dauernd. Ich wehre mich nicht dagegen, weil ich viel von ihm lerne und ihn wunderbar finde. Aber es gibt Paarungen, die nicht aufgehen ...

niusic: Welche?

Srnka: Bedřich Smetana und Bohuslav Martinů will man mir aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen immer zur Seite stellen. Ich weiß auch warum, und ich wiederhole mich jetzt, das passt mir eigentlich gar nicht.

niusic: Aber wenn es wichtig ist ...?

Srnka: Gut. Ich sehe, wie oft doch noch in den nationalen Sparten des 19. Jahrhunderts gedacht wird. Ich werde als tschechischer Komponist bezeichnet. Auch in großen Rundfunkanstalten, wenn sie da Dvořák immer noch als exotisches Repertoire bezeichnen ... In der zeitgenössischen Musik sind die Schulen nicht mehr national. Wie kann Europa politisch klappen, wenn uns in so vielen Zusammenhängen zuerst die Unterschiede der Länder einfallen? Was bedeutet dieses dramaturgische Grundpattern für gesellschaftliche Zusammenhänge ...?

niusic: Wahrscheinlich kommt es dazu wegen der Unfähigkeit, Musik anders zu beschreiben und zu kategorisieren?

Srnka: Kann ich nicht beantworten. Ich denke aber, es hat tiefere als nur musikalische Gründe.

niusic: Sie dagegen können wirklich mitreißend über Ihre Musik sprechen, machen Sie das gern?

Srnka: Nein.

niusic: Wer soll dann drüber kommunizieren und vermitteln: die Journalisten, die Dramaturgen?

Srnka: Vielleicht kann ein Komponist als der rote Punkt fungieren, der die Zuhörer ins Werk zieht. So funktioniert es nun anscheinend mal, Menschen statt Substanz. Eigentlich will ich Substanz. Die spielt sich nämlich auf ganz anderen Ebenen ab, irgendwo im Kompositionsprozess. Darüber kann man nicht besonders gut reden, allgemeinverständlich und populär schon gar nicht. Deshalb schreibe ich ja das Musikstück und nicht Texte. Alles, was man über die Musik sagt, ist Oberfläche und verrät und verkauft das, was wir eigentlich wollen. Vielleicht bin ich bald konsequent genug, alles zu stoppen.

niusic: Was jetzt?

Srnka: Na, keine Interviews mehr zu geben und keine einzige Werkerläuterung mehr zu schreiben. Das wäre wohl in letzter Instanz das, was richtig wäre. Andererseits ist es auch meine Verantwortlichkeit, zu versuchen, das Hören und Wahrnehmen der Menschen zu öffnen. Zeitgenössische Musik ist, nicht zufälligerweise, ein guter Indikator für die allgemeine Toleranz in der Gesellschaft.

niusic: Dann wünschen Sie sich jetzt lieber etwas zu Weihnachten: Was müsste sich im Sprechen und in der Vermittlung von Neuer Musik ändern, dass Sie wenigstens ein bisschen zufrieden wären?

Srnka: In Proben und in dramaturgischen Gesprächen flackert oft kurz etwas auf: die Substanz, das, was ich aussagen will. Kann man das transportieren, frage ich mich? Vielleicht mit Neuen Medien, die von Vermittlungs-Spezialisten genutzt werden. Meine Kinder klicken dauernd selbstbestimmend irgendwelche Guides und sowas an. Das gibt es in unserer Szene bisher nur begrenzt, andere Kunstsparten schaffen das viel besser und selbstbewusster. Ich wünsche mir: tolle Infografiken zu wichtigen Stücken unserer Zeit, dass man gegen ein Abo alle geschützten Partituren auf einer Internetseite finden kann, Live-Audioguides von Komponisten ... man kann sich viel vorstellen, was anderswo schon zum üblichen Kommunikationskanal gehört.
Hm, also eigentlich eine digitale Popularisierung der zeitgenössischen Musik ...

niusic: Ach, das auch noch!

Srnka: Na, in den Wissenschaften geht das doch auch. Da werden Ergebnisse auch aufbereitet und an den Mann gebracht, ohne dass die Hauptaussage verloren geht. Und zeitgenössische Musik ist eine Erforschung des Klangs.

niusic: Weil da vermittelt wird, dass es die Menschen direkt betrifft.

Srnka: Hm ... Gestern in einer Einführung hat man mich mit der ersten Deutschen auf dem Mount Everest und dem Gründer des Kriseninterventionsteams des Roten Kreuzes Salzburg zusammengebracht. Danach haben sich nach langer Zeit mal wieder Menschen für eine Einführung bedankt. Viele Blickwinkel und Perspektiven, erstaunlich viele Zusammenhänge mit der Musik, die einen Gedankenraum erschließen, das funktioniert wohl gut.

niusic: Interdisziplinär ...

Srnka: Letztendlich müssen wir doch nur klar machen, dass wir mit unserer Musik und Kultur Dinge verhandeln, die etwas sehr Allgemeines betreffen. Und jeden Menschen, auch wenn er es in seiner Hektik nicht mitkriegt. Lange dachte besonders die Musik ja, dass sie aussteigen kann aus dem Trubel der realen Welt. So ist es aber nicht. Jede Tätigkeit muss sich in der Gesellschaft ihr Feld erkämpfen. Das muss doch nicht immer auf billige Banalisierung rauslaufen. Hier bei den „Dialogen" funktioniert es ja auch wunderbar. Sind wir denn entrückt? Haben wir noch was zu sagen? Ja, es muss nur klar und deutlich gemacht werden, in Konzertdramaturgien, Konzertsituationen und Medien! Aber das ist nicht der Job des Komponisten.

© Vojtech Havlik


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