Von Jonas Zerweck, 12.02.2019

Alle für alle

In Zeiten, in denen die Diskussionen um Machtpositionen in Kulturinstitutionen zunehmen, werden alternative Modelle immer wichtiger. Das Orchester „The Knights" aus New York etwa erarbeitet seine Interpretationen gemeinschaftlich. Kann das funktionieren? Und wie verändert sich dabei der Umgang miteinander? Ein Proben- und Konzertbesuch zum Auftakt der Europatournee in Stettin.

„Ja – scharf! Das machen wir!“

Eric Jacobsen

Während der Probe an Beethovens achter Sinfonie steht auf einmal die Violinistin am zweiten Pult der zweiten Geigen auf. Völlig unbeeindruckt davon spielen die anderen weiter. Die Violinistin legt ihr Instrument ab, lässt sich vom Bühnenrand in den etwas tiefergelegten Zuschauerraum gleiten und geht von einer zu nächsten Position. Sie prüft die Akustik des Saals und die Klangbalance des Orchesters. „The Knights“ aus New York proben auf der Bühne, denn am Abend steht das Auftaktkonzert ihrer Europatour an, hier in der Philharmonie Stettin.

Nach einiger Zeit lässt Eric Jacobsen am Dirigentenpult die knapp vierzig Musiker unterbrechen. Er hat ein paar Korrekturen, wobei er sie eher als Fragen stellt. „Ich glaube, wir können hier noch einen etwas leichteren Ton in den Streichern versuchen, oder?“ Zustimmung vom Konzertmeister 172 , seinem Bruder Colin, und einigen aus dem Orchester. Nach ein paar Rückfragen meldet sich auch die erste Flötistin zu Wort. „Was haltet ihr davon, wenn wir diesen Themenabschnitt beim zweiten Mal etwas zurückgenommener spielen? Den ersten mit deutlich mehr Kraft, aber den zweiten leiser?“ Jacobsen am Pult gefällt die Idee: „Ja – scharf! Das machen wir!“ Ähnlich gut kommt die Idee bei den Mitspielern an. Gerade als sich alle für einen neuen Anlauf bereit machen, setzt die mittlerweile zurückgekehrte Violinistin an: „Der Saal klingt sehr klar und hell. Ich glaube, die mittleren Stimmen, gerade die Celli, können noch etwas lauter. Der Raum gibt diese Klangbreite her.“ Dann spielen sie.

  1. Konzertmeister – das hört sich schon eindrucksvoll an. Nicht umsonst kennt man die Redewendung: „Die erste Geige spielen“. Zu erkennen ist der Konzertmeister an der Sitzposition, ganz außen vorne bei den ersten Geigen. Außerdem leitet der Konzertmeister das Stimmen an, kommuniziert per Blick viel mit dem Dirigenten, manchmal bekommt er beim Auftritt sogar einen Sonderapplaus. (MH)

Die gesamte Probe über herrscht ein reger Austausch, und nicht selten verschwindet einer der Musiker in den Zuschauerraum. Jeder, der eine Idee hat, spricht sie aus, es wird viel probiert. Natürlich sind es nur noch Stellschrauben, an denen alle drehen, so wenige Stunden vor dem Konzert. Aber der Prozess findet auch beim Erarbeiten der Stücke so statt, berichtet Eric Jacobsen im Gespräch.

Trotz vollem Probenplan und allgemeinem Jetlag von der Reise aus Amerika prägt während des gesamten Nachmittags großer Respekt den Umgang miteinander. Jeder wird geschätzt, Hierarchien bestehen praktisch nicht, selbst wenn vorne ein Dirigent steht, und es Konzert- und Co-Konzertmeister sowie Stimmführer gibt. Deutlich werden diese flachen Strukturen etwa auch dadurch, dass die Musiker innerhalb der Instrumentengruppen für bestimmte Stücke die Plätze tauschen – bei den Violinen sogar zwischen erster und zweiter, und auch der Konzertmeister überlässt seinen Platz einem Kollegen. „Das Rotieren hält die Leute aufmerksam für verschiedene Dinge. Du fühlst dich einfach anders, wenn Du an einer anderen Stelle im Orchester sitzt. Und es entsteht natürlich mehr Empathie, wenn Du in die Rolle von jemand anderem schlüpfst,“ erzählt Jacobsen.

„Ich bin eher Moderator.“

Eric Jacobsen

Wenn aber das Orchester so aktiv bei der Interpretation mitarbeitet, welche Rolle bleibt dann ihm als Dirigenten? „Ich bin eher ein Moderator des Prozesses. Meine Aufgabe ist es, die Musiker und Musikerinnen weiterzubringen und verschiedene Dinge auszuprobieren – selbst wenn ich von den Ideen erst einmal nichts halte.“ Auch das hat mit Respekt zu tun: „Diese Gruppe hat sich dazu entschieden, den Prozess so zu öffnen, dass sich jeder einbringen kann. Wenn Du dann vor vierzig deiner Kollegen eine Idee äußerst, dann kann ich nicht sagen, dass das eine blöde ist.“ Natürlich käme es aber vor, dass es innerhalb der Gruppe verschiedene Meinungen gibt. Dann liegt es an ihm, eine Entscheidung zu fällen. Überhaupt achtet Jacobsen darauf, dass die Interpretationen jeweils einer Idee folgen und nicht wie zusammengewürfelt wirken.

Aber wie klingt dieser Ansatz im Konzert?

„In der Konzertsituation sehe ich uns ein bisschen wie einen Fischschwarm, in dem jeder schnell auf Gesten von mir zu Dynamik- 42 , Tempo-, Farben- und Charakterveränderungen reagieren kann. Weil wir im Vorhinein so viele Ideen durchgespielt haben, können wir sehr flexibel reagieren. Das gibt mir als Dirigent dann sehr viel Spielraum. Aber es funktioniert auch in die Gegenrichtung: Wenn etwa ein Bläsersolist eine Phrase auf bestimmte Weise spielt, dann gehen wir zusammen diesen Weg weiter.“ Ihr basisdemokratischer Weg sei bestimmt nicht der bestmögliche, ist er sich sicher, aber er sei ein möglicher und nun mal der, für den sie sich entschieden haben. Jacobsen, der auch andere Orchester leitet – dann im üblichen Stil – weiß, dass beide Systeme Vor- und Nachteile mitbringen.

Die „Knights“ touren mit Avi Avital. Als der mit ihnen ohne Dirigent seine Transkription 254 von Bachs Cembalokonzert in d-Moll für Mandoline probt, wird sichtbar, dass sie ihr System flexibel anpassen können. Avital besitzt eine klare Vorstellung seiner Interpretation, hauptsächlich spricht er. Deutlich seltener kommt die ein oder andere Frage oder auch mal ein Vorschlag. Alles wird genauso respektvoll besprochen.

  1. In dieser Schublade schlummert sehr viel: Die Lehre der Dynamik hat alles unter ihrer Kontrolle, was mit Lautstärke zu tun hat. Egal ob fließende Veränderungen, einheitliche Stufen oder abrupte Veränderungen der Lautstärke. Ein bisschen Italienisch schadet da nie, jedenfalls bei alter Musik. Viva il volume! (CW)

  2. Bach hat seine 6 Solosuiten zwar für Cello geschrieben. Aber weil Bratschisten nicht viele eigene Stücke haben und die Suiten so schön fanden, haben sie sich einfach diese Werke geklaut und für ihr Instrument umgeschrieben, also transkribiert. Eine beliebte Technik vor allem für Repertoire-benachteiligte Instrumente oder Kammermusikgruppen wie Blockflötenoktette. (AV)

Weil jeder jedem zuhört, stimmt immer die Balance.

Im Konzert zeigen sich dann die klanglichen Vorteile einer Orchesterkultur, in der jeder Einzelne mitdenkt und -gestaltet: Alle werfen sich engagiert in den Abend. Akzente bekommen kraftvolle Härte, mit Hingabe setzen die Musiker Klangfarben differenziert voneinander ab und, weil jeder jedem zuhört, stimmt immer die Balance: Auf fast jedem musikalischen Parameter drückt sich große Leidenschaft aus – und wohl auch Vorfreude auf die beginnende Tour.

Die erste Hälfte dominiert Barockmusik 27 , dazwischen Thomas Adès modernes Werk „Three Studies From Couperin“, und mündend in das transkribierte Cembalokonzert von Bach. In der zweiten Hälfte spielen sie Beethovens 8. Sinfonie und enden mit einer Mischung aus Arrangements armenischer Volksmusik, einem Stück von Avital und einem simplen, amerikanischen Country-Pop-Stück als Zugabe. Vor allem die Interpretationen der kurzen Stücke gelingen, weil sich dort jeweils eine prägende Idee der Spielweise durch die einzelnen Stücke zieht. Bei dem knapp halbstündigen Beethoven mischen sich hingegen Phasen dazu, in denen nicht immer ein zentraler Gedanke alles trägt. So lässt manchmal der Zug zum Unbedingten nach, allerdings ohne dass das Ensemble bei der technischen Präzision, der Spielfreude oder der Klangschönheit etwas einbüßt.

Wenn zum Applaus dann Jacobsen sein Symbol der Macht, den Dirigierstab, geschickt hinter seinem Ärmel verschwinden lässt, sich zwischen die Musiker stellt und sich alle immer gemeinsam verbeugen, wird einmal mehr deutlich, welch kollegiale Atmosphäre dieses Orchester prägt.

  1. Reifrock, Puder, Mätressen und Schampus. Willkommen im Barock. Musikalisch endet diese Epoche mit dem Tod von Johann Sebastian Bach. Die Musik ist mathematisch komplex geführt, ergötzt sich an Verzierungskunst und wurde häufig für die Kirche komponiert. Der Barock bietet aber mehr als Schwulst und Erhabenes. (CW)

The Knights auf Tour mit Avi Avital:
12. Februar 2019 Tonhalle Düsseldorf, Deutschland
13. Februar 2019 Kongresshaus Stadthalle, Heidelberg, Deutschland
16. Februar 2019 Großer Sendesaal, NDR, Hannover, Deutschland
17. Februar 2019 Staatstheater Darmstadt, Deutschland
19. & 20. Februar 2019 Elbphilharmonie, Deutschland
21. Februar 2019 Musikverein, Wien, Österreich
22. Februar 2019 Brucknerhaus, Linz, Österreich
24. Februar 2019 Graf Zeppelin Haus, Friedrichshafen, Deutschland
25. Februar 2019 Konzertkirche Schaffhausen, Schweiz
26. Februar 2019 Tonhalle Maag, Zürich, Schweiz
27. Februar 2019 Reitstadel, Neumarkt, Deutschland

© Shervin Lainez
© Jonas Zerweck


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