„Mehr Zeitgenössisches im Konzert!“, so lautet das Musikjournalistencredo, mit dem man in der Branche ziemlich sicher großen Beifall bekommt. Ein bisschen erscheint diese Aussage wie das Äquivalent zu „Gegen die Todesstrafe" und „Schützt die Umwelt". Eine große Mehrheit wird zustimmen, auch schweigend, eine wütende Minderheit aufschreien.
Ich will mich beim Enthusiasmus für Neues nicht ausschließen. Denn oft ist ein Streichquartett mit neuartigen Spieltechniken oder eine Oper aus den letzten 50 Jahren auch einfach aufregender, weil fordender, und mit ihren ausdifferenzierten technischen Ausrucksmöglichkeiten eben näher an unserer heutigen, vielstimmigen Welt. Und besonders für uns arbeitsmäßige Konzertgänger innerhalb des Betriebs ist es schön, mal eine Dutilleux-Sinfonie zu hören, anstatt den hunderachtzigsten Beethoven.
Doch nach meinen Konzerterfahrungen, besonders im vergangenen Jahr, glaube ich langsam aber sicher, dass die ewigen Neue Musik-Forderer ebensowenig die Wahrheit predigen wie die alten Musikkritiker, für die die Musikgeschichte nach Arnold Schönberg endet.
So habe ich letztes Jahr beim Aldeburgh Festival junge britische Komponisten mit zeitgenössischen Kompositionen gehört, die klangen, als hätte sich Claude Debussy nicht getraut, aufregend zu instrumentieren, bin bei einem Abend mit Rihm-Liedern eingeschlafen und habe mich über programmdurchtriefte Neue Musik geärgert, die ohne Sinn, Verstand und Mehrwert, dafür aber feuilletonlobheischend in Festivalprogramme gequetscht wurde. Von der berühmten Sandwich-Struktur mal ganz zu schweigen. Klar, bei Aufträgen zu Uraufführungen beispielsweise ist nicht immer abzusehen, was man bekommt. Aber oft wirkt es so, als hätten sich die Veranstalter überhaupt nicht die Mühe gemacht, sich näher mit ihrem beauftragten Künstler zu beschäftigen. Ein Graus. Natürlich, viel ist auch hier Geschmackssache, und zugegebenerweise gibt es eben Tage, an denen ich hellwach einem Cage-Werk folgen kann, andere, an denen ich lieber mit Bruckner-Sinfonien in andere Welten gehoben werde. Manchmal braucht es Süßigkeiten statt Spinat.
Bloß auf diese immer noch vergleichsweise rare Gattung der zeitgenössischen Musik (und ich meine damit meist alles ab 1960) einzuschlagen, oder sie zu ignorieren, ist dann aber auch genauso gefährlich, wie nur Süßigkeiten zu essen. Viele Menschen, auch Verantwortliche, würden das nur zu gern als eine generelle Ablehnung dieser Musik interpretieren und Werke aufgrund kritischer Artikel zu dieser Musik aus dem Programm nehmen. Das konservative Publikum ist schließlich keine Legende.
Im Mozarteum wurde bei einem Stück des Komponisten Miroslav Srnka immer noch demonstrativ gegähnt und mit Applaus gegeizt, dafür aber ein bestenfalls mittelmäßiges Mozart-Requiem in halbgarer Interpretation gepriesen wie der heilige Gral. Das ist natürlich eine irgendwie unheimliche Entwicklung, die wütend machen kann. Dabei ging es hier eigentlich nicht um die Musik Srnkas, sondern um eine generelle Haltung zur Moderne: Niemand im Publikum gähnte, weil er diese Srnka-Wendung schon zu ausgelutscht und nicht mehr wirkungsvoll fand, etwa weil Beat Furrer das besser komponiert hat, sondern, weil er sich erst gar nicht drauf einließ. Das ist einfach unproduktiv. Wie könnte man diesem emotionslosen Gegenüberstehen bei Neuem also beikommen? Es braucht eine konstruktive Kritik der Neuen Musik, keine Verhätschelung. Durch Vermittler, durch Musikjournalisten.
Schluss mit desinteressierter Verhätschelung
Allein schon diese Forderung birgt riesige Probleme.
Wer hat überhaupt noch einen Überblick über die weit verzweigte Szene, in der immer mehr Komponisten keiner Schule zuzuordnen sind, manche sogar gar nicht mehr klassisch Komposition studieren, sondern programmieren und Elektronik-Sounds erschaffen? Wer ist in der Lage, fachkundig auszuwählen und zu kritisieren? In den Festivalteams, Intendanzen und auch unter den Journalisten sicher nur die wenigsten. Und das schon allein, weil ein Großteil dieser Musik der letzten fünfzig Jahre nicht oft im Konzert zu hören ist. Ein Teufelskreis, der sich schnell dreht.
Die professionellen Kritiker müssten, um der Musikentwicklung beizukommen, wohl jedes Jahr ihr Handwerkszeug anpassen, ihre Kategorien neu denken und andere Kriterien festlegen.
Wer auch immer bestimmt, was in der zeitgenössischen Musik gut, interessant und aufführenswert ist, denkt in Zukunft hoffentlich nicht mehr in den Kategorien „Klassik“ und „Zeitgenössisches“.
Irgendwann wird eben auch hier einmal der Satz gelten, der schon im Krieg der U- und E-Musik-Anbeter für eine gewisse Schlichtung gesorgt hat: Es gibt nur gute und schlechte Musik. Problematisch bleibt, dass darüber manchmal erst die Zeit, die Rezipienten und immer stärker auch persönlicher Geschmack entscheiden.
Zuallererst muss dafür aber das Sprechen über Zeitgenössisches aus der Nische heraus und, vielleicht auch mal mit einer provokanten These zur Neuen Musik, eine Diskussion anregen.