Zu schön, um wahr zu sein: Dem Charme der bayerischen Landschaften kann sich keiner entziehen. Riesige, klare Seen, in denen sich Bergketten spiegeln, friedlich vor sich hinmümmelnde Kühe auf den Wiesen. Im Voralpenland sind dies keine Klischees, sondern das tägliche Panorama beim Weg zum Bäcker oder in die Arbeit. Kein Wunder, dass sich stressgeplagte Großstädter hierhin zum Sattsehen und Auftanken zurückziehen.
Johannes Brahms, aufgewachsen in Norddeutschland,verbrachte 1873 einen Sommer in Bayern, genauer: in Tutzing am Starnberger See. Hier urlaubte und komponierte er vier Monate lang – von Mai bis September – und schwärmte in einem Brief an einen Freund in München, den Dirigenten Hermann Levi: „Tutzing ist weit schöner, als wir uns neulich vorstellen konnten. Eben hatten wir ein prachtvolles Gewitter, der See war fast schwarz, an den Ufern herrlich grün, für gewöhnlich ist er blau, doch schöner, tiefer blau als der Himmel, dazu die Kette schneebedeckter Berge – man sieht sich nicht satt.“ Mit Levi hatte er drei Jahre zuvor eine Erkundungsfahrt an den Starnberger See gemacht und sich wohl in den Ort verliebt.
Waren es die Urgewalten der Natur, die ihn hier faszinierten? War es die Ruhe, die Einsamkeit?
Tutzing liegt nur eine halbe Zugstunde von München entfernt, doch die Welt ist hier leiser, zumindest an diesem goldenen Oktober-Mittwoch. Das Städtchen hat sich verändert in den letzten 150 Jahren, nicht aber die Berge und der Starnberger See. Er zieht die Augen magnetisch auf sich, beruhigt den Puls. Hier ist der See am breitesten und man blickt in der Ferne auf den Wetterstein, die Zugspitze. Beim Rundgang durch den Park am See kann man sich vorstellen, dass Brahms bei seinen morgendlichen Spaziergängen die Gedanken und Ideen nur so sprudelten.
Die Sommermonate am See waren für Brahms eine Auszeit von Wien, vielleicht auch eine Flucht. Er war in Wien angestellt bei der Gesellschaft der Musikfreunde, musste viele Konzerte dirigieren. In der Donaumetropole wusste im Sommer 1873 niemand so recht, wo Brahms eigentlich war – er hatte sich einfach aus dem Staub gemacht. Das gab einigen Ärger. Doch das Ergebnis der vier Monate, die er in Tutzing verbrachte: die Haydn-Variationen op. 56, die Lieder und Gesänge op. 59 und die beiden Streichquartette op. 51. Fast hätte Brahms sich in Tutzing noch an eine Oper gemacht, doch das Projekt verlief sich im Sande.
War Brahms gestresst in dieser Zeit? War er glücklich?
Zum hundertsten Todestag des Komponisten gründete man in Tutzing 1997 ein Brahms-Festival, das gerade seinen 20. Geburtstag feiert. Zum Jubiläum kreisen die fünf Konzerte des Festivals noch enger als sonst um Brahms. Während in den vergangenen Jahren seine Werke mit denen anderer Komponisten konfrontiert wurden, erklingen in der Jubiläums-Saison (15.-29. Oktober) nur Brahms-Kompositionen, inklusive aller seiner Tutzinger Werke, vom Liederabend über Kammermusik bis zum abschließenden großen Orchester-Chor-Projekt mit Brahms` Requiem.
Für ein paar Gulden hatte sich Brahms 1873 im Tutzinger Gasthof Amtmann ein Zimmer und auch das Klavier gemietet. Dieses allerdings war so grässlich, dass Brahms es nur mitmietete, „damit niemand darauf spielt“, wie er einem Besucher verriet. Wenn er ein Klavier brauchte, wanderte er entweder nach Bernried zu seinen Musiker-Freunden oder nutzte den Flügel im Musikpavillon des Sängerehepaars Vogl in Tutzing. Dort, mit direktem Blick aufs Wasser, probierten die Freunde abends auch gemeinsam alte und neue Werke aus: ein ungestörter Kreativ-Ort.
Hört man Brahms in Tutzing anders?
Der Pavillon steht noch, die „Brahms-Promenade“ erinnert, nicht weit davon, an den berühmten Komponisten. Nebenan, im Festsaal des Schlosses, spielt das Mandelring-Quartett an diesem Abend alle drei Brahms-Quartette. Doppeltes Risiko, wie der künstlerische Leiter des Festivals, Christian Lange, vor dem Konzert betont: „Schwere Brocken“ seien das, die nur ein ganz spezielles Publikum ansprechen. Zudem sei das Mandelring Quartett erstmals zu Gast und in Tutzing daher noch unbekannt. Doch die Sorge vor leeren Reihen im Festsaal ist unbegründet: Der Saal füllt sich, das Publikum ist hoch konzentriert.
Brahms hatte an seinen ersten beiden Quartetten Jahre gearbeitet und mit ihnen gehadert, hatte sich von Selbstzweifeln ausbremsen lassen und – nach eigener Aussage – mehr als 20 Quartette verworfen. Warum stellte er die ersten beiden in Tutzing fertig und schickte sie dem Verleger? Was setzte diese Kräfte in ihm frei? „Er hat sich hier fallen lassen können“, meint Lange dazu, „er war plötzlich völlig entspannt, ist viel spazieren gegangen am See, da ist ihm die Musik dann aus der Feder geflossen“. Es war ein Meilenstein für Brahms, es ist ein Glück für die Nachwelt. Und Lange hat mit dem Mandelring-Quartett, das längst zu den besten seines Fachs zählt, selbstbewusst Weltklasse-Interpreten für diesen anspruchsvollen Abend nach Bayern geholt. Qualität ist ihm wichtig, wichtiger als volle Säle.
Nicht nur die eindrucksvollen Naturschauspiele zogen Brahms an diesen Ort, sondern vor allem auch Menschen, die ihm wichtig waren: die Brüder Lachner in Bernried, Hermann Levy und Julius Allgeyer in München, Therese und Heinrich Vogl in Tutzing. Es gibt kuriose Geschichten über diesen Sommeraufenthalt. Von „geselligen Einladungen, bierseligen Kutschfahrten nach Andechs und an schönen Abenden Kahnpartien, bei denen Heinrich Arien aus dem Tannhäuser schmetterte“, kann man in der Festivalbroschüre der Brahmstage lesen. Dabei sei sogar einmal eine aus der Münchner Hofoper ausgeliehene Harfe ins Wasser des Starnberger Sees gefallen „und unbrauchbar zurückgebracht worden“. Dass viel Bernrieder Bier bei diesen Sommeraktivitäten geflossen ist, kann man sich gut vorstellen.
Hat Brahms wirklich den kleinen Wirtshaustöchtern die Zöpfe geflochten, wie Malte Korff in seiner Brahms-Biografie behauptet?
Nach dem Konzert: Stille, rund um den See und auch im dunklen, schlafenden Städtchen. Vielleicht hört man Brahms in Tutzing nicht unbedingt mit anderen Ohren, weil er hier zeitweise lebte und arbeitete. Sondern weil die Weite des Sees hier alles bestimmt, wenn man es zulässt. Während man sich in Berlin auf dem Weg zur Philharmonie über den Potsdamer Platz durch Menschenmengen und hupende Autos schlängelt und sich später die letzten Klänge des Konzerts schnell im Großstadt-Lärm verlieren, ist man hier allein. Mit sich, der Musik und mit Brahms, dem großen Unbekannten, der an diesem Ort ein bisschen greifbarer wird.
Die Tutzinger Brahmstage 2017
© Tutzinger Brahmstage/EAT-Archiv
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