Von Anna Vogt, 27.01.2018

Soundkiller

Handy raus, Kopfhörer rein, Musik an: Das ist der Automatismus, der das Musikhören von vielen im 21. Jahrhundert prägt. Doch für manche klassischen Werke ist es Gift, wenn das Smartphone die Stereoanlage ersetzt und der U-Bahn-Lärm die Soundkulisse zur Musik bildet.

Das digitale Zeitalter: Es verändert alles, macht vieles bequemer, effizienter, günstiger. Längst ist für viele von uns Musikhören nicht mehr mit einem haptischen Erlebnis verbunden. Keine CD oder Schallplatte wird im Geschäft in die Hand genommen und von allen Seiten begutachtet, kein Booklet wird vorsichtig aus der sich widersetzenden CD-Hülle gefingert und durchgeblättert. Stattdessen ist Musik heute immateriell und flüchtig in ihrer digitalen Ungreifbarkeit. Thilo Braun hat vor zwei Wochen auf niusic die schöne neue Streamingwelt vorgestellt. Wenn wir dieses Angebot an digitalen Medien nutzen, verändert das automatisch auch die Art und Weise, wie wir hören. Erst dadurch, dass unsere Musik-Sammlung uns per Smartphone und Streaming nun ständig begleiten kann, wird das Musikerlebnis auch hinausgetragen auf die Straßen, in die Bahnen: Wir hören unterwegs, auf dem Weg von einem Ort zum anderen. Das ist toll, öde Wartezeiten werden dadurch angenehm überbrückt, Spaziergänge mit einem Soundtrack unterlegt. Aber nicht jede Art von klassischer Musik ist dafür gemacht.

Leise Stellen gehen unter, laute schrecken uns unangenehm auf.

Manche heiß und innig geliebten Stücke habe ich seit Jahren nicht gehört – weil diese Musik Stille als Hintergrund verlangt, nicht den Lärmpegel der Großstadt, das unablässige Stimmengewirr der Menschenmassen, die ungewollte Zäsur durch Autohupen und Fahrradklingeln. So ist es etwa mit den filigranen Bach-Suiten 88 für Cello solo oder einer Tschaikowski-Sinfonie wie der „Pathétique“mit ihren Gefühls-Explosionen oder einem fast unhörbaren, langsam ersterbenden Ende: Nur vor dem Hintergrund der Stille und im bewussten Hinhören erschließen sich solche Stellen, entfalten sie ihre Wirkung. Neue Musik mit ihren oft ausgefeilten Klangtechniken kann man beim Nebenbei-Hören ganz vergessen. Schaltet man sie in der Straßenbahn oder auf dem Berliner Ku`damm ein, gehen die leisen Stellen unter und die lauten schrecken einen unangenehm auf.
Vor der Soundkulisse der Städte, im Rattern der Züge ist meist nur das, was mehr oder weniger in einer Lautstärke abläuft, gut zu ertragen: barocke Concerti grossi, wenn das Cembalo-Continuo 28 in seiner Einheits-Lautstärke einen gleichbleibenden Rahmen bildet; auch Beethovens Klavierkonzerte eignen sich, weil das Klavier – ebenso wie oft Gesang – grundsätzlich in einem begrenzten dynamischen Spektrum unterwegs ist und in seinem Klang klar und direkt ist. Die digitale Technik verlagert Musikhören auf die Straße. Doch dort schreibt die Soundkulisse uns vor, was wir hören können – entwickelt sich dadurch ein neuer Kanon der klassischen Musik? Einer, der die Extreme meidet und den Gleichklang feiert?

  1. Der Generalbass ist das harmonische Gerüst, in dem Barockmelodien herumkraxeln. Er ist die tiefste Stimme, und Generalbassspieler haben nur die Scharniere des Gerüsts notiert. So kann beispielsweise jeder Organist sein eigenes Gerüst zusammenschweißen, die restlichen Melodien winden sich um dieses. (CW)

  2. Wenn Komponisten Stücke wie Allemande, Courante und Gigue in einer Suite bündelten, dann waren diese barocken Tänze der alten Adelshöfe nicht mehr für das Tanzparkett bestimmt, sondern für den Konzertsaal. Aber auch die musikalischen Highlights aus Ballett und Oper finden in der kondensierten Form der Suite ihren Weg auf die Konzertpodien. (AV)

Bedudeln lassen oder Hinhören?

Das Hören von Musik über digitale Medien ist die Zukunft – und eine Zukunft, die man überhaupt nicht verteufeln muss. Aber wie jede (gar nicht mehr so) neue Technik stellt uns auch das Streamen neben allen Vorteilen vor die Herausforderung, den sinnvollen Umgang mit ihr erst zu lernen. Zwar macht das digitale Format die Musik nun über Internet und Smartphone überall und jederzeit verfügbar, aber es verführt eben auch zu einem selektiven und oft unkonzentrierten Hören, denn „das intensive, mehrmalige Hören des Werks tritt tendenziell in den Hintergrund, ebenso die im Hörerlebnis stattfindende Auseinandersetzung mit der Musik. Diese macht Platz für ein rastloses Springen von Album zu Album, von Titel zu Titel“, wie Rafael Arto-Haumacher in einem Blog-Beitrag für das Medium „Freitag“ beschreibt. Das ist per se auch nichts Schlechtes, oft wollen wir ja auch einfach mal nur berieselt werden, wollen abschalten und uns zu schönen Klängen entspannen. Aber die klassische Musik hat so viel mehr zu bieten: dramatische Entwicklungen, melancholische Töne, kunstvolle Polyphonie, brutale Aufschreie, todesnahes Verklingen. Und all dies braucht Stille und Konzentration, wie man sie idealerweise im Konzert oder aber ungestört zu Hause findet – und wenn schon unterwegs, dann vielleicht mit wirklich guten Kopfhörern. Im Weltenrauschen unserer Städte geht eine wichtige Qualität dieser Musik sonst unter.

© pixabay


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