Von Hannah Schmidt, 14.10.2017

Die Nachrichten-Lücke

„Und jetzt das Wichtigste aus dem Sport“ – ein Satz, der nach den ZDF-Sieben-Uhr-Nachrichten selbstverständlich kommt. Jeder vor dem Fernseher gibt sich dem Spiele-Spielen und Um-die-Wette-Laufen hin. Dabei gibt es genug anderes, das genauso berichtenswert wäre.

Nach diesem Satz widmet sich jeder vor dem Fernseher stillschweigend und vielleicht sogar gerne den Ergebnissen diverser Fußball-, Handball- und Tennis-Spiele oder Ergebnissen anderer sportlicher Wettkämpfe. Warum aber wird die Kultur, die mindestens genauso wichtig für die Gesellschaft ist, so gut wie gar nicht berücksichtigt? Warum gibt es keine 15 Minuten „Und jetzt das Wichtigste aus der Kultur“? Es gibt Arte und 3sat und es gibt Kultursendungen, die spät in der Nacht laufen. Das gibt es für den Sport aber ganz genau so, wenn nicht sogar wieder in breiterem Angebot und darüber hinaus gerne zur Prime Time, vor allem für Fußball: Eurosport, Sport1 und Sky als Sender, als Sendungen Sportschau, Sportclub, Sportstudio, ran, Doppelpass, Live-Übertragungen der Bundesliga, der Champions League, WM oder EM. Und dazu noch die festgelegten 15 Minuten nach den ZDF-Nachrichten. Wieso dieses Ungleichgewicht, das die Kultur unwillkürlich fern und speziell und schwer nahbar erscheinen lässt?

„Fast zehn Milliarden Euro fließen im Jahr in die Kultur. Und doch, so scheint es, ist das nicht genug.“

Klaus Weise

Klaus Weise hat in der ZEIT vom 21. September dieses Jahres einen treffenden und entlarvenden Kommentar zu diesem Thema geschrieben, der lange überfällig war. „Große Summen fließen in die Kultur, fast zehn Milliarden Euro gibt die öffentliche Hand im Jahr. Und doch, so scheint es, ist das nicht genug“, schreibt Weise.

„Es gibt in Deutschland jährlich ungefähr 35 Millionen Besucher in 126.000 Theateraufführungen und 9.000 Konzerten. Es gibt rund 140 öffentlich getragene Theater, 220 Privatbühnen, 130 Opern-, Sinfonie- und Kammerorchester, 70 Festspiele, 150 Theater- und Spielstätten ohne festes Ensemble, 100 Tournee- und Gastspielbühnen ohne festes Haus plus eine unübersehbare Vielzahl freier Gruppen. Und es gibt gut 110 Millionen Besucher in 6.358 Museen. Es gibt Kinos, Popkonzerte, Literaturhäuser, Galerien, Chöre, Laienorchester, Musikschulen, Malkurse, Kunstvereine, es gibt Bibliotheken mit Myriaden von Nutzern, Freunden, Förderern, Sponsoren und, und, und.“

Klaus Weise, ZEIT

Trotzdem ist der Sport so viel wichtiger, dass er in dieser überbordenden Präsenz und Fülle und zudem selbstverständlich mit festem Sendeplatz nach den Nachrichten besprochen wird? „Im Sport ist es wie im wirklichen Leben: Es gibt Verlierer und Gewinner“, schließt Weise als kurze Begründung für die 15 Minuten Sport jeden Abend. „Werbung und Wetter folgen. Die Werbung sagt uns, was wir jetzt noch zum Wohlfühlen brauchen, und die Wetterprognose verrät uns einigermaßen treffsicher die Zukunft.“

Die einfache Dualität des Sports gibt es im „wirklichen Leben“ nicht, die Realität ist ambivalent.

Das ist bewusst verkürzt, natürlich, aber ich finde es dennoch wichtig, diese Annahme zu Ende zu denken: Natürlich gibt es auch im Sport Spiele, die unentschieden ausgehen. Spiele, nach denen die Leute weder jubelnd noch niedergeschlagen, sondern vor allem schulterzuckend und etwas resigniert nach Hause gehen. Natürlich ist es im Sport nicht wie im „wirklichen Leben“. Die einfache Dualität zwischen Gewinner und Verlierer, erster Platz, zweiter und dritter Platz, „gerade noch geschafft“ oder „abgestiegen“ gibt es meistens nicht, die Wirklichkeit ist ambivalent. Der Wunsch nach solcher Einfachheit ist daher aber sicherlich ein wichtiger Grund, warum Sport so viele Interessen und so viele Menschen unter seinem Dach vereinen kann. Der Hauptunterschied zur Kultur ist jedoch: Der Sport stellt keine Fragen.

Sport an sich ist unpolitisch und unkritisch

Es gibt die Football-Spieler, die sich in Amerika bei der Nationalhymne hinknien, ja, es gibt die BVB-Spieler, die wohltätige Stiftungen ins Leben rufen und jährlich viele Tausend Euro spenden oder in Afrika Brunnen bauen. Der Sport an sich aber ist unpolitisch, unkritisch, intellektuell nicht herausfordernd. Er unterhält, aber er verlangt nichts von seinen Zuschauern. Sie können die Welt um sich herum vergessen und anderen Leuten beim Spielen zugucken.
Das ist der Grund, warum nach minutenlangen Berichten über drohenden Atomkrieg, Unabhängigkeits-Referenden, arbeitslose, waffengeile und mordende Millionäre in Las Vegas, zum Fremdschämen gesellschaftlich unfähige amerikanische Präsidenten, AfD im Bundestag, Brexit, wackelndes Finanzsystem, Syrienkrieg und Nahost-Konflikt über Fußball-Tabellen, unfaire Schiedsrichter-Entscheidungen und Tennis-Punktestände geredet wird. Weil wir keine Lust mehr haben, uns mit dem Übel in der Welt zu beschäftigen. Weil wir uns einen Moment lang entspannt zurück lehnen und uns in die einfache, meist duale Welt des Sports begeben möchten. Da ist Empörung einfach, da ist Freude einfach, da gibt es nichts, was diese Emotionen in irgendeiner Weise trübt oder ihnen die Legitimation abspricht. Zumindest denken so womöglich diejenigen, die die Sendeplätze vergeben.

Es darf nicht nur ausschlaggebend sein, wie viele Menschen im Land potenziell an einem irrelevanten Thema interessiert sind.

Sport ist zweifellos ein wichtiges Element in der heutigen Gesellschaft, und das nicht zuletzt, weil so viele Menschen aktiv ihre Freizeit mit Sport verbringen. Nur hat das Spiele-Spielen und Um-die-Wette-Laufen deshalb keine größere Relevanz für die Gesellschaft als die Kultur.
Denn Kultur ist allgegenwärtig und betrifft das Leben aller Menschen – ja, selbst ärmere Menschen, denen die Teilhabe an der so genannten Hochkultur oft schwer oder gar nicht möglich ist, sind alles andere als kulturlos! Wie viele haben Ideale, Sinn für Ästhetik, Freude an Musik, auch wenn sie kein Geld haben für Bücher, für Theater-, Kino- oder Konzertkarten! Sogar Stadiontickets wären für viele Menschen zu teuer und ziemlich fern, würden die wichtigsten Ergebnisse und Besprechungen, wenn es denn keine Live-Übertragung gibt, nicht trotzdem jeden Abend in die Wohnzimmer gespült. Die Nähe zum Sport macht zum großen Teil das Fernsehen.

Im Unterschied zum Sport thematisiert die Kultur, thematisiert die Kunst die Menschen selbst. Sie öffnet eine diskursive Meta-Ebene, aktiviert den Hörer, Betrachter, Zuschauer in seinem ganz individuellen Umfeld, sie ist ein Spiegel der Gesellschaft: Musik, Kunst, Theater und Literatur weisen uns auf unsere Schwachstellen hin, auf die Paradoxien, an die wir glauben, und die Wahrheiten, die wir nicht sehen wollen, sie zeichnen Utopien und Dystopien und verwerfen sie wieder, sie tragen konstruktiv und kreativ zu dem bei, was Gesellschaft sein könnte und sein will. Sie tun das mit einer Freiheit, die die Politik nicht hat, und mit einer Offenheit und Schlagfertigkeit, die der Journalismus oft nicht hat – dabei braucht es gerade diese Freiheit und Schlagfertigkeit in vielen Situationen so dringend. „Um die gesellschaftlichen Probleme zu lösen, brauchen wir nicht nur einen wachen Verstand, eine kluge Politik und eine ebensolche Gesetzgebung“, schreibt Weise, „sondern vor allem auch: die Kunst und ihre subversiven, befreienden und auch identitätsstiftenden Kräfte.“

Gebt der Kultur einen festen Sendeplatz!

Sein Ruf nach einer gleichwertigen Platzierung der Kultur im täglichen Nachrichtenprogramm sei an dieser Stelle unterstützt, wiederholt und nach Möglichkeit verstärkt. ARD und ZDF, Nachrichtensender und News-Redaktionen dieses Landes und dieser Welt: Öffnet eure Schleusen und gebt der Kultur einen festen Sendeplatz! Sie liefert nicht nur die Auseinandersetzung mit den Katastrophen und Problemen und Fragen der Welt, sie befähigt auch zur Auseinandersetzung mit ihnen. Traut es euren Zuschauern zu, dass sie es aushalten, dass sie es sich vielleicht gar wünschen, sich tiefsinnigen, lebensnahen und folgenreichen Fragen und Themen zu stellen. Sie haben es verdient, auf diese Weise ernst genommen zu werden.

Es darf nicht nur ausschlaggebend für eine Berichterstattung sein, wie viele Menschen im Land potenziell an einem politisch und gesellschaftlich irrelevanten Thema interessiert sind, sondern es muss vor allem eine Haltung hinter der Nachrichtenauswahl stehen, die an einer horizonterweiternden Information der Zuschauer orientiert ist.
Natürlich könnten wir es auch so beibehalten. Dann wäre ich aber für Konsequenz: Berichten wir also an gleicher Stelle über die täglichen Hashtag-Trends bei Twitter, die aktuell beliebtesten Chefkoch-Rezepte, die meistgeklickten Katzenvideos und die grausamsten Unfall-Fotostrecken des Tages! Zum Abschluss könnten dann noch ein paar Bilder von nackten Frauen oder Männern über den Bildschirm flimmern und den unterhaltsam auflockernden Übergang zum First-World-Abendprogramm abrunden. Es lebe das Abschalten. Und jetzt: „Das Wichtigste aus dem Sport“!

© Screenshots und Montage: Hannah Schmidt
© Juan Di Nella/unsplash.com/CC BY


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