Seine Augen fokussieren mich wie ein freundliches, ehrliches Objektiv. Eine Begrüßung mit ruhiger Stimme und festem Händedruck. Vor dem Berliner Konzerthaus brüllt die Sonne vom Himmel, nebenan wird gerade für eine Musicalgala aufgebaut, es ist laut und stickig. Wir fliehen in ein naheliegendes Einkaufszentrum, wo es ein Café gibt und die besondere Art der Stille, die nur in teuren Läden herrscht. Im kühlen Wind der Klimaanlage fahren wir mit der Rolltreppe ins Untergeschoss. Zeit für die erste Frage, die Marco Borggreve mit einem Foto und einem Satz beantwortet.
1. Was mögen die Künstler*innen an Dir?
– Nichts, aber sie halten es mit mir aus, weil die Bilder gut werden!
Die Kunst des Understatements beherrscht er perfekt. Er habe noch immer nicht verstanden, was an ihm berichtenswert sei, sagt er lächelnd, „der Mensch hinter der Kamera ist leider zu langweilig.“
Lieber fragt er mich, was ich trinken möchte und wohin ich im Leben so will – lenkt von sich ab, hin zur anderen Person. Diese Technik lässt erahnen, wie eine Foto-Session mit ihm aussehen könnte. Zuerst redet er lange mit seinem Gegenüber, lässt sich komplett auf die Situation ein und beobachtet.
2. Was bringst Du den Künstler*innen bei?
– Vor der Kamera sie selbst zu bleiben.
Deshalb geht Marco Borggreve ohne Konzept in eine Session. Es gibt keine durchgeplante Lichtstimmung, keine eingeübte Pose, die Kleider dürfen nicht zu schön sein. Er muss wissen, was die Künstler mit ihrer Musik wollen, um diese Idee festzuhalten. Denn manche haben einen perfekt gebügelten Anzug und ihre sinnlichste Miene im Gepäck, aber keine Ahnung, wie sie Haydn spielen möchten. Deswegen besucht er seine Kunden im Konzert, spürt, riecht, schmeckt die Energie des Live-Moments – um diese in ein Bild zu übertragen. Die Fotos schießt er nach musikalischen Regeln, achtet auf Rhythmus, Tempo, Struktur, Textur. Am wichtigsten ist aber die Echtheit seiner Bilder: „Ich möchte jedem sein Bild geben.“
3. Was möchtest Du noch lernen?
– Hinter der Kamera noch mehr ich selbst zu bleiben. Und tanzen!
„Ich spreche wirklich von Liebe.“ Würde er seine Arbeit nicht lieben, könnte er sie nicht tun. Drei Shootings in der Woche, vier Stunden pro Shooting, drei intensive Begegnungen mit einem oder mehreren Menschen – das zehrt. Seine Überlebensmethode: Taxis und teure Hotels. Und keine Jobs in Holland, denn dort lebt er mit seiner Frau und drei Kindern. Wenn sie morgens aufwachen, will er zuhause sein.
4. Wovor hast Du Angst?
– Vor dummen Menschen mit viel Geld und Macht. Ich glaube aber, gemeinsam mit Iván Fischer, dass man diese Menschen bekämpfen kann, indem man jeden Tag einen Bachchoral hört. Ganz laut!
An seinem Mineralwasser nippend, schweift sein Blick zu den Menschen, die hier im Café sitzen. „Welche Musik würdest du für diese Leute spielen?“ Für das asiatisch aussehende Pärchen, den Geschäftsmann, der in seinem Essen stochert, das ältere Ehepaar, das seine Beine unter den Bistrotisch streckt?
„Jeder Musiker sollte einmal Straßenmusik gemacht haben. Um zu spüren, wie es ist, den Abstand zwischen Podium und Publikum zu verkleinern.“
5. Worin sind sich die Künstler*innen vor der Kamera alle gleich?
– Geiger wollen nicht mit einem ungestimmten Instrument fotografiert werden. Und Pianisten sollten erstmal etwas spielen, dann geht es besser!
Über zwei Jahre hat Marco Borggreve ein Beethoven-Experiment gemacht. Jeder Pianist, den er fotografiert hat, sollte vor der Session den zweiten Satz des Opus 90, einer Klaviersonate in e-Moll spielen. Dem einen sei er zu uninteressant gewesen, der andere habe sich zu jung gefühlt, und einer sagte, seine Hände seien noch zu schmutzig. Derlei Erfahrungen mit Musik liebt Borggreve, und wenn er sagt, dass Musik alles sein kann, klingt das noch nicht einmal nach einer Plattitüde.
6. Welche Foto-Session hat Dich verändert?
– Jede Session verändert mich. Ich lerne immer etwas, da es ein Austausch von Energie ist, der immer etwas Neues bringt. Aber ich habe eine große Schwäche für alte Männer. Menahem Pressler kann ich nicht fotografieren, ohne dreimal zu weinen, und dass Harnoncourt verstorben ist, verweigere ich zu akzeptieren.
Nikolaus Harnoncourt war sein größter Mentor.
Über zwanzig Jahre lang hat er den Dirigenten fotografiert, jedes Jahr einmal, hat sein Altern festgehalten. An ihm habe er seinen eigenen Fortschritt beobachten, sich spiegeln können.
Die Guten seien dazu in der Lage, sich nicht von ihrem Ego behindern zu lassen. „Dann sind sie ganz nah an der Musik.“ Die anderen suchen nach einer ausdrucksstarken Haltung, schminken sich lange und fragen, ob sie besser so oder so stehen sollen. Ein einziges Mal hat er eine Session abgebrochen – weil sein Kunde ein schlechter Mensch gewesen sei.
7. Der schwierigste Moment einer jeden Foto-Session?
– Wann man am besten aufhört. Ich möchte immer ewig weiter fotografieren, wenn es gut läuft ...
Auf einem seiner Fotos ist ein Dirigent zu sehen, dessen Hand wie eine abwärtsblickende Blüte in der Luft schwebt. Zwischen den Fingern funkeln die Lichter am anderen Ende des Saals. Neben ihm eine Geigerin, deren Haare sich in der Bewegung auffächern, der Bogen tanzt auf den Saiten.
Ein solches Bild entsteht, wenn Marco Borggreve zum Teil des Orchesters wird, dann verschmilzt er mit dem Klangkörper und die Musiker vergessen, dass ein Fotograf unter ihnen ist. Wenn er einmal alt ist, will er nur noch Konzertfotos machen. Keine Porträts mehr, sondern nur die reine Energie auf der Bühne einfangen.
8. Wen würdest Du nie fotografieren?
– J. S. Bach. Ich würde gleich alle meine Kameras verkaufen, damit er sich nicht mehr um sein Geld und seine Kinder sorgen muss, dann würde ich für ihn kochen und waschen, damit er noch mehr Musik komponieren kann. Und ich würde für ihn alle schlechten Fagottisten verhauen.
Immer wieder Bach, der niemals Erklärbare. Vielleicht wäre eine Toccata für den Geschäftsmann passend gewesen, oder die Goldbergvariationen für die zwei älteren Herrschaften im Café. Wir fahren hoch in die Hitze, die uns durch die Schiebetüren entgegenströmt, und einen Moment später stehe ich wieder auf einer Straße im stickigen Berlin. In der U-Bahn denke ich noch lange nach über einen Satz von Marco Borggreve: „In all den Jahren ist mir nicht klar geworden, wo das Bild ist.“