Zurzeit trifft man Marcus Bosch vor allem im baden-württembergischen Heidenheim an, seiner Heimtatstadt. Urlaub? Fehlanzeige. Stattdessen dirigiert er am 27. Juli bei den Opernfestspielen, deren künstlerischer Leiter er ist, die Premiere der zweiten Festspielproduktion: Verdis frühe Oper „Un giorno di regno“. Oper hat er allerdings auf seiner Playlist für niusic komplett ausgespart. Stattdessen beginnt diese swingend mit „Sing Sing Sing“, dem Erfolgshit des Meister-Klarinettisten Benny Goodman. „Das war meine erste Begegnung mit dem Jazz. Dieses Stück steht emblematisch für die Klarinette und das, was sie im Jazz kann“, sagt er dazu. Die Klarinette stand schließlich am Anfang seiner musikalischen Laufbahn, doch „ich habe nie selber Jazz gemacht, was ich sehr bedauere“, so Bosch. Das war vermutlich auch nicht nahe liegend in einem „sehr pietistischen Haus, wo man eigentlich Musik in einer sehr schlichten Form gemacht hat, zum Beispiel als Chormusik“, erzählt der Dirigent.
Crossover ohne Orchester-Sauce
Später, als Teenager, bot das Electric Light Orchestra mit seiner Fusion von Beethovens Fünfter und elektronischer Musik auch überraschende neue Crossovers des Musikgeschmacks: „Wo man sich sonst oft mit Freunden musikalisch gar nicht gefunden hat, gabs hier plötzlich Gemeinsamkeiten.“ Das Wichtigste bei Crossover-Projekten, die Marcus Bosch schon mit Musikern wie Roger Cicero zusammen geführt haben, aber generell auch für alle Musikrichtungen gültig, egal ob Klassik oder Pop: Es muss handwerklich gut gemacht sein. So wie bei Simply Red, „da hat einfach jede Nummer einen eigenen Charakter, da sind wirklich Musiker am Werk, und es gibt keine Blendung durch die Show“, so Bosch. Auch Elton John gehört mit seinem „Live In Australia“-Album für Bosch in diese Kategorie der „sinnhaften Aufnahmen, wo Crossover gelingen kann: Dann nämlich, wenn man zwei Welten zusammenbringt und man nicht nur mit dem Orchester Sauce macht.“ In solchen Fällen bietet Crossover auch eine mögliche Antwort auf die Frage: „Wie gewinne ich Menschen, die zunächst mal an Klassik kein Interesse haben?“ Denn dann merken Zuhörer auch, dass „wir als Orchester nicht im Elfenbeinturm sitzen.“ Letztlich, so Bosch, sei diese Art, den Klang eines Orchesters den Leuten nahezubringen, eben auch ein möglicher Weg, ihnen zu zeigen: „Was entgeht euch, wenn ihr nicht Mahler hört?“
Marcus Bosch
Zu Gustav Mahler hatte Bosch lange selbst ein schwieriges Verhältnis, obwohl er diese Musik schon früh in seiner Karriere intensiv kennen lernte: „Die erste Sinfonie von Mahler: Am Anfang hatte ich dieser Musik gegenüber ein totales Unverständnis“, gibt er zu, „Mahler hab ich überhaupt nicht begriffen, er war anfangs eine totale Überforderung für mich, als ich bei dem Stück assistierte. Noch heute ist Mahler einer der am schwersten zu knackenden Komponisten für mich. Damals dachte ich: ‚Diese unfassbare Welt mit diesen ganzen Brüchen! Warum führt er keine Melodie zu Ende? Warum fängt er immer wieder mit etwas Neuem an?‘ Aber umso älter man wird, umso mehr versteht man – aus der eigenen Lebenssituation heraus – diese Musik.“ Mendelssohn dagegen „war schon immer ein Hausgott“, sagt Bosch. Doch die Mendelssohn-Aufnahme von Howard Shelley war für ihn wie eine Offenbarung: „Bei ihm kann man hören, dass man auch komplett ohne falsche Rubati musizieren kann, wirklich frei“, schwärmt Bosch. Ein Musizier-Ideal, das er auch für sich verfolgt: „Das ist immer mehr ein Anliegen und auch ein Kampf von mir geworden, diese Tradition zu durchbrechen, an jeder Ecke nochmal was machen zu müssen. Musik besteht nicht aus zwanghaftem Rubato-Spiel um zu zeigen, dass ich Musiker bin!“ Doch er gibt auch schmunzelnd zu: „Wenn ich selbst Klavier spiele, bin ich manchmal schon eine romantische ‚Wildsau‘, dann geht mir das Herz durch. Wenn ich Bach am Klavier spiele, bin ich ein ganz anderer, als wenn ich Bach dirigiere.“
Überhaupt Bach: Marcus Bosch hörte ihn dirigiert von Nikolaus Harnoncourt erstmals im Radio und fuhr dann extra nach Stuttgart, um sich eine Einspielung von den Bach-Suiten mit dem Concentus Musicus zu besorgen (Die Prä-Amazon und -Streamingdienst-Zeiten!). „Mir war es ein totales Bedürfnis, diese Spielweise zu erforschen“, sagt er dazu, „das war damals natürlich super unsauber. Aber diese Entdecker-Wut, die dahintersteht …! Das war wirklich ein Markstein für mich.“ Heute interessieren ihn selbst an den Stücken aus der Barockzeit vor allem „Dinge wie Transparenz und der Anspruch, dass draußen wirklich gehört wird, was in den Noten steht. Und das ist ja oft das Schwerste.“