Von Marie König, 18.07.2017

Musikalischer Herzinfarkt

Musik beruhigt. Musik wühlt auf. Musik lässt unseren Puls rasen. In der Vergangenheit spekulierten viele über den Zusammenhang zwischen unserem Herzen und der Musik – mit absurden und spannenden Ergebnissen.

„Der Puls ist das Uhrwerk des Menschen.“

François Nicholas Marquet

Alles pocht! Wenn unser Herzmuskel sich an- und wieder entspannt, wird Blut durch die Adern gepumpt. Das Endergebnis, unser Puls, ist ein empfindlicher Gradmesser unseres Gesundheitszustandes. Der Mediziner François Nicholas Marquet erfand Mitte des 18. Jahrhunderts die „Nouvelle méthode facile et curieuse, pour apprendre par les notes de musique à connôitre le pouls de l’homme“, eine Art Notensystem, welches die Eigenarten des Pulses in Noten goss. Es visualisiert den Rhythmus, der uns Menschen biologisch ausmacht: Entspannung und Anspannung.

Manche Musik beruhigt, manche kratzt auf, wieder andere versetzt uns in Trance – es gibt kaum Musik, die unseren Körper gar nicht beeinflusst. Diese Verbindung interessierte schon die alten Griechen: Der Mediziner Herophil entwarf die waghalsige Theorie, dass man jeden Menschen anhand seines Pulstempos und der Taktart wiedererkennen könne, die wiederum durch Parameter wie Alter, Geschlecht und Charakter beeinflusst werden.
Diese Idee nahm sich Marquet, Arzt in Nancy, zum Vorbild. Motiviert wurde er vom Willen, medizinische Behandlungen für jedermann zugänglich zu machen, ganz im Sinne der Aufklärung. Schließlich konnte damals jeder (akademisch gebildete) Mensch Noten lesen und sich so einen schnellen Einblick in das eigene pulsierende Innenleben verschaffen. Die zweite Motivation: sein eigenes Leiden. Marquet wurde getrieben von Herzrhythmusstörungen und hatte ein ureigenes Interesse an der Visualisierung der pathologischen Anomalien. Rund dreißig übersetzte er in arhythmische Einzelnoten, anhand derer man das Leiden schnell erkennen konnte.

Aus Marquets Hauptwerk: das Puls-Menuett.

Unser Leben sollte im Menuett verlaufen! Diesen Tanzrhythmus nennt Marquet als gesundes Rahmensystem für den Puls, einen Dreiertakt, der im mäßigen Tempo von sechzig Schlägen pro Minute dahinschreitet. Innerhalb dessen legt er für jede Pulsart bestimmte Notenwerte fest: Viertelnoten stehen für einen durchschnittlichen, halbe für einen langsamen, Achtelnoten für einen schnellen Puls. Wenn die Note über der Linie schwebt, deutet Marquet einen flachen Puls an, wenn sie bequem zwischen den Linien sitzt, schlägt der Puls normal. Ausgehend von den Notenwerten differenziert Marquet die Krankheitsbilder, ein buchstäbliches Notieren jeder Unregelmäßigkeit.

Aus medizinischer Sicht mag dieses System eher niedlich wirken, vielleicht ein wenig albern. Doch zeigt es, wie sehr den Menschen die Verbindung des menschlichen und musikalischen Rhythmus seit jeher fasziniert. Bis heute widmen sich zahlreiche Komponisten dem Thema auf künstlerische Art und Weise. Um den Wissenschaftswahn in Ästhetik zu übersetzen. Im 20. Jahrhundert nährte John Cage seine Theorie über die Nicht-Existenz von Stille mit einem Selbstversuch, in dem er sich in einen völlig schallisolierten Raum sperrte. Was geschah? Er hörte seinen Puls. Wir können der Musik, dem Geräusch, dem Rhythmus nicht entrinnen.



Richard Reed Parry, ein 1977 geborener kanadischer Tausendsassa – Multiinstrumentalist, Komponist, Produzent, Elektronikkünstler – schreibt Stücke, die mit der körperlichen Verfassung der Musiker agieren. Der individuelle Puls der Streichquartettspieler gibt den Takt vor. Es ist ein biologisches Metronom. Wie reagiert das Herz des Zuhörers darauf?

© Hugo Heikenwaelder/commons.wikimedia.org/CC BY-SA 2.5
© Michael Rosengarten BEng, MD.McGill/commons.wikimedia.org/CC BY-SA 3.0
© François Nicholas Marquet/books.google.de


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