Dies ist die Geschichte eines Scharlatans, den es in dieser Form und Reichweite wohl nur selten auf der Welt gegeben hat. Sein Name ist John Taylor, er selbst nannte sich „Chevalier“ John Taylor, Okulist. Vor allem war er aber PR- und Werbeprofi in eigener Sache, zelebrierte die großen und pompösen Auftritte, war in den Gazetten zu seiner Zeit äußerst präsent. Sein Motto: „in optics, expertissimus!“ Den Leitspruch „Qui visum visam dat“ („Der Augenlicht und Leben gibt“) ließ er auf seine Kutsche schreiben, die über und über bemalt war mit Augen. Noch bevor er eine Stadt erreichte, ließ er plakatieren und Handzettel verteilen, die die Ankunft des „großen“ John Taylor ankündigten.
So dürfte auch Johann Sebastian Bach auf ihn aufmerksam geworden sein. Dem damals 63-Jährigen fiel während seiner Arbeit an der „Kunst der Fuge“ das Sehen und Schreiben zunehmend schwer, was man an der Handschrift im Autograf noch immer deutlich erkennen kann. Seine letzte Fuge schrieb er wegen der immer schwächer werdenden Sicht nicht zu Ende. 1750 entschloss er sich zur Operation – und geriet (warum, ist unklar) ausgerechnet an den Scharlatan John Taylor, der sich in diesem Jahr auf Deutschlandreise befand.
Weil es kein Krankenhaus in der Nähe gab, operierte Taylor Bach im Gasthaus „Drey Schwanen“ in Leipzig. Ohne Narkose, ohne Betäubung, ohne Desinfektion. Der sogenannte „Starstich“ war zu jener Zeit die einzige Operationsmethode zur Behandlung des Grauen Stars, sehr schmerzhaft und risikoreich (so bekommt im Falle John Taylors der Begriff „Star“-Stich gleichsam eine fatal-ironische Lesart). Nur in knapp 15 % der Operationen konnte den Kranken ein allerdings sehr unscharfes Augenlicht zurückgeben werden, der Rest erblindete durch Folgekomplikationen.
Der Starstich
Beim Starstich wird mit einer so genannten „Starstichnadel“ in das geöffnete Auge des vor dem Operateur sitzenden Patienten gestochen und die getrübte Augenlinse zur Seite gedrückt. So kann wieder ohne Hindernis Licht durch die Pupille auf die Netzhaut fallen. Der Operateur muss die Linse mit der Nadel eine Weile in ihrer Position festhalten, damit sie dort bleibt. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie wieder nach vorne rutscht und der Patient erneut nichts mehr sieht. Nach dem Eingriff wird das operierte Auge durch einen Verband ruhig gestellt, der über beide Augen gelegt wird und teilweise einige Monate getragen werden muss.
Johann Sebastian Bach überstand die Tortur der Operation und auch die anschließende Nachbehandlung mit Aderlässen und Augentropfen aus Taubenblut. Die Operation war jedoch nicht erfolgreich, also operierte Taylor Bach Monate später ein zweites Mal. Nach diesem Eingriff erkrankte Bach schwer, lag wochenlang mit Infektion und starkem Fieber im Bett, umsorgt von Ärzten, seiner Frau und seinen Kindern. Als er am 18. Juli 1750 den Verband abnehmen durfte, widerfuhr ihm großes Glück – denn er konnte tatsächlich wieder sehen! Doch von diesem Glück hatte er nicht viel: Nur zehn Tage später, am 28. Juli 1750, starb er.
So verheerend John Taylors Operation an Johann Sebastian Bachs Augen war, so überschwänglich stellte der Okulist seinen Eingriff nach außen hin als Erfolg dar. So war in den Berliner Nachrichten im Jahr 1750 von der angeblich gelungenen ersten Operation zu lesen. Eine Botschaft, die auch Georg Friedrich Händel erreichte, der zu der Zeit bereits in London lebte. 1758 ließ er sich vom durchreisenden Taylor operieren – bereits Händels zweite Augen-Operation –, konnte danach jedoch nicht besser sehen als vorher, stattdessen erblindete er danach vollständig. In seiner Autobiografie History of the Travels and Adventures von 1761 berichtet Taylor selbst von diesem Misserfolg. Georg Friedrich Händel starb etwa ein Jahr nach Taylors Eingriff.