Was für ein Idyll! Das Haus der „Berliner Festspiele“ hat einen großstadtlärmfreien Garten, die mit Unkraut verwucherte Wiese ist mit Unebenheiten gespickt. Auf einer der weißen Bierbänke sitzt Berno Odo Polzer, der Künstlerische Leiter von „MaerzMusik – Festival für Zeitfragen“, einer Verästelung der „Berliner Festspiele“. Polzer studierte Archäologie, Musikwissenschaften, Philosophie und Germanistik in Wien, ebenso interdisziplinär ist sein kurativer Drang, zeitgenössische Musik mit politischen Theorien zu unterfüttern. Der Interviewton ist maximal locker. So ungezwungen und unverkrampft scheint Polzer offenkundig häufiger zu sein, wie es auch das folgende Netzfundstück zeigt. Trotzdem fordert er im Zurücklehnen mit komplexem Inhalt heraus.
niusic: Stellt die Szene der „zeitgenössischen Musik“ sich die Frage nach gesamtgesellschaftlicher Relevanz zu wenig?
Polzer: Ich denke schon. Aus Angst vor unangenehmen Antworten weicht man solchen Fragen gerne aus. Ich beobachte eine Art Schutzrückzugshaltung. Es gibt viel Angst, dass die Gelder gekürzt werden. Eine Art Überlebensangst. Dabei hat diese Musik viel zur Gesellschaft beizutragen.
niusic: Was will MaerzMusik anders machen?
Polzer: Was mich interessiert, ist: Was ist der Beitrag von zeitgenössischer Musikproduktion zu politisierten Fragen. Wir sollten uns der Frage der Gegenwartsrelevanz bewusst stellen und an Konsequenzen arbeiten.
niusic: Die Neue Musik 107 ist ja die Subnische der Nische „Klassische Musik“...
Polzer: Neue Musik gilt als elitär und zurückgezogen. Das muss sie aber nicht sein. Vieles wurde in der Selbstpräsentation der Neuen Musik falsch gemacht. Wir sollten daran arbeiten, dass sich dieser Bereich nicht weiter abkapselt.
niusic: Du willst die Gratwanderung zwischen der unkommerziellen Kunst und der Popularität neu ausbalancieren?
Polzer: Was Popularisierung heißt, ist gerade in den gegenwärtigen politischen Verhältnissen eine interessante Frage – als Gegensatz zum Populismus. Popularisierung muss nicht einhergehen mit einer Vereinfachung, einer Veränderung oder Verfälschung der Inhalte. MaerzMusik experimentiert mit Parametern wie Räumen, Formaten, Diskursen – die Haltung, mit der Musik und andere Künste präsentiert werden, spielt eine große Rolle. Wir arbeiten mit jungen Künstlern, die mit der selbstgeschriebenen Geschichte der Avantgarde kritischer umgehen wollen. Unsere Künstler verstehen sich als politische Agenten. Sie sind höchst politisiert.
Neue Musik tut weh. Unverstanden und von einer Vielzahl romantischer Musikfans in den Elfenbeinturm des Elitarismus verstoßen, vegetiert sie als „Stiefkind der Klassik“ vor sich hin. Doch die modernen Nachfahren von Beethoven und Schönberg sollte man nicht unterschätzen– Avantgarde hat ihre Gründe. (AJ) ↩
niusic: Das hört sich alles sehr schön an. Was sich weniger schön anhört, ist dein Vorwort im Festivalprogramm. (lacht) Ich wurde latent aggressiv beim Lesen. Du brauchst jetzt kurz Geduld mit Dir selbst. Du schreibst da:
In chronologischer Reihenfolge beschäftigen die Veranstaltungen von MaerzMusik sich mit klanglicher Immersion, Marginalisierung, Rassismus, Homophobie, Kolonisierung, Psychogrammen westlicher Gesellschaften, der Normativität künstlerischer Praktiken, Gender, Umwelt- und Finanzkrisen, Ungleichheit, spekulativer Geschichtsschreibung, Gedächtniskulturen, Science Fiction, spekulativer Narration, multispecies feminism, Mystizismus, Kollektivität, Befreiung, Spiritualität und der Wahrnehmung der Zeit, um nur die wichtigsten zu nennen.
Berno Odo Polzer, Vorwort MaerzMusik
niusic: Ernsthaft? Das alles in zehn Abenden?
Polzer: (lacht) Für mich ist meine Arbeit ein sehr prozesshaftes Schaffen. Ich habe dieses Vorwort im Dezember vergangenen Jahres geschrieben, da war der Drucktermin. Dieser Absatz ist vielleicht nicht hundertprozentig gelungen. Umso näher das Festival rückt, umso eher kann ich das Thema auch greifen und sprachlich fassen. Es war für mich die Lösung eines Problems, das ich beim Schreiben hatte.
niusic: Was steckt dahinter?
Polzer: Dieser Absatz ist einfach der Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen, die die Künstler*innen des Festivals beschäftigen. Mich interessieren künstlerische Arbeiten, die unsere Lebensrealität wahrnehmen und darauf reagieren. All diese Phänomene sind eben Teil unseres gegenwärtigen Lebens. Ich bin überzeugt, dass noch viel mehr in diesen zehn Tagen steckt. MaerzMusik setzt den Schwerpunkt „Dekolonialisierung von Zeit“. Diesem Begriff der Dekolonialisierung wird in seiner Komplexität selten Rechnung getragen. Die von mir aufgelisteten Themen sind gewissermaßen die Endpunkte von „Kolonialisierung“, und die wollte ich auffächern. Ich will politischen Diskurs und Musik näher zusammenbringen.
niusic: Was ist „Dekolonialisierung der Zeit“?
Polzer: Das ist sehr komplex. Dekolonialisierung lässt sich nicht mal eben umsetzen. Das ist ein Prozess, der lange dauern wird. Es geht um die Bewusstwerdung der real existierenden strukturellen Überbleibsel aus der Kolonialgeschichte in den gegenwärtigen Machtverhältnissen, nicht nur in Wirtschaft und Politik, sondern auch in den Bereichen von Wissensproduktion, Gender, Sexualität und so weiter. Diese Kontinuität wird im Westen viel zu wenig wahrgenommen und problematisiert. Wenn wir in unserer Welt etwas ändern wollen, ein sinnvolles globales Zusammenleben ermöglichen wollen, dann ist die Bedingung, die Kolonialität der Macht mitzudenken. Es ist heute nicht mehr möglich, dass sich der Westen als neutrale Wertgemeinschaft definiert und dabei die Mechanismen der Unterdrückung und Ausbeutung ignoriert, die für die eigene Existenzbildung maßgeblich war. Wir haben eine problematische Vergangenheit, die wir nur vermeintlich überwunden haben. Die kolonialen Verhältnissen bleiben bestehen. Wir sind Erben des Eurozentrismus und müssen mit diesem Erbe bewusst umgehen.
niusic: Gib mir mal ein griffiges Beispiel.
Polzer: Griffige Beispiele sind drei Positionen, die im Festival wichtig sind, vertreten durch die drei Künstlerpersönlichkeiten: Catherine Christer Hennix, Julius Eastman und Walter Smetak, die in ihren jeweiligen Kontexten auf unterschiedliche Weise nicht in die herrschende Schublade von „Moderne“ passten. Eastman hat zum Beispiel gewisse Regeln verletzt, und der Preis, den seine Arbeit gezahlt hat, ist, dass sie nicht wahrgenommen wurde.
MaerzMusik über Julius Eastman
niusic: Was hat Dich noch an Eastman gereizt?
Polzer: Bei Eastman gibt es zwei Aspekte. Einmal den Künstler Eastman und seine Musik, die innerhalb der Musikgeschichte eine sehr spezielle Form von Post-Minimal-Music darstellt.
niusic: Was ist das für Musik?
Polzer: Sie besteht nicht nur aus rein kombinatorischen Prinzipien, sondern die Pattern, mit denen Minimal Music ja immer arbeitet, betrachtet Eastman als organisches Phänomen. Er verbindet sie mit ganz anderen musikalischen Formen. Es ist total mitreißende Musik. Die drei Stücke, die wir aufführen, werden erstmals in Deutschland gespielt. Und der zweite Aspekt ist: Eastman als Figur in seiner Rezeptionsgeschichte. Das deckt Mechanismen auf, die noch immer wirken. Er wird marginalisiert, weil er eine Minderheit ist.
niusic: Das ist bei Künstlern, die in der Versenkung verschwinden, ja immer so ...
Polzer: Ja, aber ich meine noch etwas anderes. Er wird auch marginalisiert, weil er als dezidiert schwarzer, homosexueller und politischer Künstler unangenehme Fragen aufwirft. Zum Beispiel in den Titeln seiner Stücke wirft er das dem Publikum entgegen: „Evil Nigger“, „Gay Guerilla“ und „Crazy Nigger“. Eastmans Fall ist aber noch viel komplizierter, weil seine Persönlichkeit ebenfalls zu seinem Verschwinden beigetragen hat.
Julius Eastman 1980 kurz vor der Uraufführung von „Gay Guerrilla“
There was a little problem with the titles of the pieces. There were some students and one faculty member who felt that the titles were somehow derogatory (...) The reason I use „Gay Guerrilla“, G-U-E-R-R-I-L-L-A, that one, is because these names, let me go in a little subsystem here, these names, either I glorify them or they glorify me. In case of „guerrilla“ that glorifies „gay“, that is to say there are not many gay guerrillas, I do not feel that gaydom has, does have that strength, so therefore I use that word with the hopes that they will. You see, I feel that, at this point I do not feel that gay guerrillas can really match with Afghani guerrillas or PLO guerrilas, but let us hope in the future that they might (...) I use „gay guerrilla“ in hopes that I might be one of them, if called upon.
niusic: Nochmal zur Dekolonialisierung ...
Polzer: Eine der wichtigsten Denkströmungen unserer Zeit ...
niusic: Warum?
Polzer: Weil sie uns zeigt, in welchen Strukturen wir – als Teil westlicher oder verwestlichter Gesellschaften – denken. Das ist schmerzhaft ...
niusic: „Schmerzhaft“ ist ein sehr starkes Wort.
Polzer: Ja. Mir ist schmerzlich aufgefallen, wie sehr unbewusste Grundannahmen und Stereotypen auch in meinem eigenen Denken fortbestehen. Das ist natürlich schockierend, ist aber auch der Beginn für ein Umdenken. Wir müssen vieles verlernen und neu lernen.
niusic: Dein Beruf erzeugt Schmerzen. Warum übst Du ihn aus?
Polzer: Ich versuche, im Bereich meiner beschränkten Möglichkeiten etwas zu dieser beängstigenden und desaströsen Gegenwart beizutragen. Das ist ehrlich gesagt nicht befriedigend, weil dann die fundamentale Frage aufploppt, ob Kunst in ihren Schutzräumen überhaupt ausreicht, um die Lebensrealität zu verändern. Ich versuche herauszufinden, wie ich der Wand, die auf uns zukommt, etwas entgegensetzen kann. Das ist die Kernfrage.
Die Eröffnung von „MaerzMusik – Festival für Zeitfragen“
© Camille Blake, MaerzMusik