Von Ricarda Natalie Baldauf, 01.02.2017

Sonne, Mond & Leiden

Es ist erschütternd. „AscheMOND oder The Fairy Queen“ von Helmut Oehring, inszeniert von Immo Karaman, konfrontiert uns mit unserer mickrigen menschlichen Existenz. Die Wuppertaler Oper hat sich als Stadttheater getraut, die Riesenproduktion auf die Bühne zu bringen. Ein Premierenbericht der Teiluraufführung.

Der Bahnhof ist ein Nicht-Ort. Ohne Geschichte, ohne Identität. Die Menschen, die er verschluckt, spuckt er wieder aus als Einheitsbrei. Die Frauen in gelber Bluse und braunem Rock gekleidet, die Männer mit Anzug, roter Krawatte und Trenchcoat, gleiche Frisuren. Doch scheint sich im Wuppertaler Bühnenbild das Leben selbst abzuspielen: Nimmt eine der Frauen gerade noch einen Strauß Rosen freudestrahlend entgegen, bricht sie plötzlich in Tränen aus und stürzt aus der Bahnhofshalle, als hätte sie etwas Fürchterliches erblickt.

„AscheMOND ist eine Hymne auf die Vergänglichkeit. Düster und dringlich.“

Helmut Oehring

Im Verlauf einer Sommernacht erzählt Helmut Oehrings „AscheMOND oder The Fairy Queen“ von uns Menschen, so winzig im Vergleich zum unendlichen uns umgebenden Universum. Eine Sonnenfinsternis wird zum Sinnbild unseres scheinbar unentrinnbaren Leidensweges, unserer Ohnmacht. Sie fährt einem tief ins Mark, als mit verzerrter Stimme Adalbert Stifters Beschreibung der Sonnenfinsternis von 1842 durch die Lautsprecher ringsherum dröhnt und sich mit völliger Dunkelheit auch eine unheimliche Stille im Saal ausbreitet.

Oehrings Oper wurde bereits 2013 in Berlin uraufgeführt und nun durch teilweise Vereinfachung und Verschlankung auch für ein Stadttheater umsetzbar gemacht. Trotzdem stürzen einem bei dieser Wuppertaler Teiluraufführung unheimlich viele Bausteine entgegen: Neben Stifters und eigenen Texten verarbeitet Oehring in seiner Oper auch welche von William Shakespeare und Heinrich Heine. Seine eigene Komposition, die außerdem mit elektronischen Klängen arbeitet, schöpft er aus Musiken von Henry Purcells „The Fairy Queen“ oder „Oedipus“. Das Ganze wird interpretiert von zwei Orchestern — eins zuständig für Oehrings zeitgenössische Komposition und ein Barockorchester für Purcell —, Instrumental- und Gesangssolisten und Chor. Die „Fairy Queen“, die Feenkönigin, kommuniziert dabei auf einer ganz anderen Ebene: Kassandra Wedel ist eine gehörlose Schauspielerin, die sich mit Gebärden ausdrückt, eine stumme und einfühlsame Begleiterin der auf der Bühne apathisch umherschlurfenden Menschen.

„Unser Sommer ist nur ein grün angestrichener Winter.“

Heinrich Heine

Purcells Musik gönnt ihnen nur kurze Momente des Glücks. Während der Tenor Christian Sturm von der süß duftenden Schönheit der Maiblüten schwärmt, erhebt sich ein unheilvolles Donnern der Blechbläser und Pauken aus dem Orchestergraben und bricht über Purcells leichte Melodien herein. Oehrings Klänge sind nie versöhnlich und ständig existent, als unheilvolle Mahnung, als fiepende Störgeräusche der Streicher und als rhythmisches Hammergeklirr auf Metall. Sie bergen ein Geheimnis, das sich in seinem ganzen schrecklichen Ausmaß nur erahnen lässt. Die kleinen Bausteine aus Text, Musik, Sprache und Gebärde werden dabei immer wieder neu zusammengesetzt. Purcell wird uminstrumentiert, erscheint mal im Gewand aus Kontrabass und E-Gitarre oder ganz ohne Instrumente, sodass nur die Stimmen der Sänger übrig bleiben. Oder das Barockorchester stößt beim Spielen gleichzeitig Worte aus, die sich im Gesamtklang einnisten. Eine ständige Dekonstruktion, aber eine produktive. Manche Passagen fordern einen unfassbaren Stimmumfang: So grollt Catriona Morisons (Mezzosopran) Stimme dringlich in der Tiefe, bevor sie sich wieder hinaufschwingt, und der Gesang von Countertenor 36 Hagen Matzeit verwandelt sich in ein Brüllen, das er dem Publikum entgegen schleudert. Bald wird klar: Wichtig ist nicht, was jeder einzelne Musik- oder Sprachfetzen aussagt, sondern wie sie miteinander in Beziehung stehen, sich gegenseitig beeinflussen. Bei dieser Oper gibt es keinen Anfangs- und Endpunkt, keinen alles entscheidenden Moment, keine Handlung im eigentlichen Sinne. Alles ist aus den Fugen geraten.

  1. Eine humane Weiterentwicklung des Kastraten. Wenn ein guter Countertenor singt, kann man seine Stimme für die einer Frau halten. Aber halt: Macht nicht das männliche Grundtimbre erst einen glanzvollen Counter und seinen ganzen Reiz aus? Darüber kann man streiten. Letztendlich ist das aber Geschmackssache. (MH)

„Weil ich leide mit Lust, warum sollte ich klagen?“, fragt Purcell. Und tatsächlich kann man sich irgendwann selbst suhlen in der Traurigkeit. Doch wie können wir wieder aus diesem lähmenden Zustand erwachen?



Schon im Prolog und dann noch einmal im Epilog gibt uns Purcells „Music For A While“ eine mögliche Antwort: „Musik soll für eine Weile all deinen Kummer stillen.“ Und wenn die nicht mehr reicht, sollte man Herz und Ohren öffnen, für seine Mitmenschen, sich klar werden über unsere Verantwortung, so kurz wir vielleicht auch nur in dieser Welt umherwandeln. Denn auch die Menschen in „AscheMOND“ finden eine gemeinsame Sprache, die Gebärdensprache. Und selbst die gehörlose Feenkönigin stimmt am Ende in den Gesang des Countertenors ein.

Die nächsten Vorstellungen:

Helmut Oehrings „AscheMOND oder The Fairy Queen“ läuft außerdem am 3. Februar 2017 um 19:30 Uhr, sowie am 5. März um 16 Uhr und zum letzten Mal am 18. März um 19:30 Uhr am Wuppertaler Opernhaus in einer Inszenierung von Immo Karaman. Das Libretto 118 stammt von Stefanie Wördemann, Jonathan Stockhammer leitet das große Ensemble und Michael Cook das Barockensemble. Kassandra Wedel tritt als Gebärdensolistin auf, Manfred Böll als Erzähler.
Die weiteren solitische Partien werden von Ralitsa Ralinova (Sopran 1), Nina Koufochristou (Sopran 2), Catriona Morison (Mezzosopran), Hagen Matzeit (Countertenor), Christian Sturm (Tenor), Simon Stricker (Bariton 1) und Hak-Young Lee (Bariton 2) gesungen. Weitere Solisten: Daniel Göritz (Gitarren) und Aleksander Gabrys (Kontrabass/Stimme).
Karten gibt es hier. Auf Anfrage wird vor jeder Vorstellung eine Einführung in Gebärdensprache mit Kassandra Wedel angeboten.

  1. Bizets „Carmen“, Verdis „La traviata“. Die berühmten Opern nennen wir in einem Atemzug mit ihren Komponisten. Aber wer schrieb eigentlich das Textbuch, das sogenannte Libretto, dazu? Von den Librettisten sind heute nur wenige Große geläufig, wie zum Beispiel Mozarts Textdichter Lorenzo da Ponte. Ausnahme: das Multitalent Richard Wagner. Der dichtete die Texte zu seinen Opern selbst. (AJ)

© Wil van Lersel
© Iwan IV./flickr.com/CC BY-NC-ND 2.0


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.