2007 verließ mit Valentin Berlinsky das letzte Gründungsmitglied das Borodin-Quartett. Seitdem musiziert hier eine neue Generation zusammen – unter altbewährtem Namen. In den letzten Jahren hat es für das Ensemble viele schlechte Kritiken gegeben, oft mit der Begründung: Von dem einstmals so berüchtigten Hausquartett Dmitri Schostakowitschs sei nichts mehr übrig geblieben, aus dem Klangideal der sinfonischen Dichte habe sich in den 70ern eine kammermusikalische Trockenheit entwickelt, die sich seit den letzten Jahren ab 2007 zudem mit interpretatorischer Unsicherheit und technischen Defiziten paare. Daher seien die Interpretationen der Quartett-Besetzung von heute mit den so oft als „echt“ verklärten aus den 50er- und 60er-Jahren nicht vergleichbar. Ist das Borodin-Quartett noch das Borodin-Quartett?
Beim Konzert am 13. Januar in der Essener Philharmonie hörten die Besucher jedenfalls ein erstklassiges, ein charakterstarkes Quartett. Es bot ein eindrückliches 15. Streichquartett von Ludwig van Beethoven und ein konzentriertes, endlos fließendes 15. Streichquartett von Dmitri Schostakowitsch. Dichte Spannung lag über den vier Musikern und schwang mit wie eine Klangdecke, im Publikum hörte man kaum einen Atemzug.
Die Musiker auf der Bühne sind seit 1996, 2007 und 2011 Teil des Borodin-Quartetts, spielen jetzt seit sechs Jahren zusammen. Primarius Ruben Aharonian und Bratschist Igor Naidin teilten den Halbkreis noch mit Gründungsmitglied Valentin Berlinsky, die anderen beiden nicht. Vladimir Balshin löste Berlinsky am Cello ab und trat damit ein schweres Erbe an.
Möglichst gleiche Persönlichkeiten
Wissenschaftler und Streichquartettforscher wie Horst Heyden formulierten in den 80er-Jahren ihre Überzeugung, eine „wirkliche“ Ein-Heit unter Streichquartettspielern sei nicht möglich, wenn sie „sehr unterschiedliche Persönlichkeiten“ seien. Aber nicht nur die Charaktere untereinander sollten stimmen, sondern auch die künstlerischen Qualitäten jedes Einzelnen und sein Verständnis von der Musik. Eine solche Kombination, ist sie einmal unter vier Menschen geglückt, lässt sich nicht wie ein Staffelstab weiterreichen, wie unter anderem die Geschichte des Alban-Berg-Quartetts zeigt: Primarius Günter Pichler veranlasste die Trennung, nachdem Bratschist Thomas Kakuska gestorben war und seine Nachfolgerin Isabel Charisius bereits seit zwei Jahren seinen Platz eingenommen hatte. Der Verlust sei zu groß gewesen, hieß es von Seiten des Quartetts.
Aber nicht nur für Streichquartette bedeutet es oft eine sowohl künstlerische wie auch persönliche Krise, wenn sich die Besetzung ändert. Gerade die Konzertbesucher und Liebhaber eines Quartetts scheinen Probleme damit zu haben, wenn ein prägendes oder gar ein Gründungsmitglied eines Quartetts „ausgetauscht" wird. So ähnlich wie bei einer radikal neuen Interpretation eines Werkes oder der Neuinszenierung einer Repertoire-Oper gibt es auch in der Kammermusik Probleme mit der Veränderung von scheinbar „Altbekanntem“. Nicht erst bei Inszenierungen wie beispielsweise Burkhard C. Kosminskis „Tannhäuser“ an der Düsseldorfer Rheinoper 2013 mit Nackten auf der Bühne und einem Tannhäuser als Kriegsverbrecher musste wegen Buhrufen und Türknallen die Premiere beinahe abgebrochen werden. Schon mit Beginn des Regietheaters in Deutschland in den 60er- und 70er-Jahren erreichten regelmäßig wütende Leserbriefe die Redaktionen und Theaterleitungen, man solle gefälligst die Finger vom „Original“ lassen. Die inszenierte Oper habe mit der „Werkidee“ nichts mehr zu tun.
Wie gut aber tut es einem „Werk“, das als Begriff ähnlich funktioniert wie der Begriff „Marke“, oder auch einer Quartett-Besetzung wirklich, wenn sie immer und immer gleich bliebe? Was wäre gewesen, wenn das Borodin-Quartett sich schon 1947, zwei Jahre nach seiner Gründung, nach dem Austritt des zweiten Violinisten Vladimir Rabei, getrennt hätte? Oder nach neun Jahren des Bestehens aufgrund des Austritts von Bratschist Rudolf Barshai? Oder spätestens 1976, nachdem Primarius Rostislav Dubinsky nicht mehr dabei war? Kann ein einziges Gründungsmitglied über so viele Besetzungswechsel hinweg überhaupt den „Ton“ eines Quartetts bewahren? Und ist das wünschenswert?
Betrachten wir einmal nicht die Besetzungswechsel, sondern gehen von der Grundannahme aus, dass Menschen sich stetig ändern. Gerade ihre persönliche (Auseinander–)Entwicklung war für Streichquartettspieler oft der Grund, ihr Ensemble schlussendlich zu verlassen. Wie muss es also vor dem Austritt allein schon menschlich in der Formation gearbeitet haben? So „gleich“ von der „Persönlichkeit“, wie Heyden es sich wünscht, können Menschen, wenn sie es zu Beginn einer Ensemblegründung auch sind, auf Dauer nicht bleiben. Und: Bliebe Musik in ihrer Interpretation und ihrer Ausführung immer und immer gleich – man könnte die Partitur in Beton gießen und zum Anschauen ins Museum stellen.
© Montage: Hannah Schmidt
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