„Wenn das der Clown sieht, dreht er durch!“ Regisseur Knut Gminder kommt auf mich zugehastet. Als Sitzplatz wurde mir ein rot lackierter Klappstuhl zugeteilt. „Das ist Requisite. Im Zirkus ist die heilig“, entschuldigt er sich. Ich bin zu Besuch im „Frankfurt LAB“, wo heute die erste Probe zu „Spectacle Spaces“ stattfindet, ein Stück für Artisten und Musiker.
In der Mitte der lang gezogenen Halle ist eine bläuliche Schattenwand aufgebaut, davor sitzen die Musiker des Ensemble Modern. Die im Raum verstreuten Requisiten sehen nach Zirkus aus: eine drehbare Tanzstange im Laternenlook, Bälle und Ringe zum Jonglieren, ein Dompteur-Mantel mit goldenen Knöpfen. Und M-Jay, ein kleiner, weißer, zotteliger Hund, der in der Gegend umher tappt und von allen geliebt wird. Die Atmosphäre ist entspannt und freundlich, es wird gescherzt, umarmt, gelacht. Die Musiker spielen sich ein und kreieren dabei ein Wirrwarr verschiedenster Klänge, aus dem kurz eine eingängige Melodie aus Brahms’ dritter Sinfonie hervorblitzt.
Heute treffen die 13 Musiker und sechs Artisten (die siebte ist krank) das erste Mal aufeinander, darunter der Jongleur Vladik Myagkostupov, die Luftakrobatin Rosannah Star und der Clown Tom Murphy. Regisseur Knut Gminder kommt eigentlich vom Film, inszeniert aber auch seit 20 Jahren Varieté-Shows: „Das sind wirklich zwei Welten“, stellt er fest. „Die Artisten dürfen aus rechtlichen Gründen nicht abhängig beschäftigt sein, weil ihre Arbeit gefährlich ist und sie selbst für ihre Sicherheit sorgen müssen. Das heißt, dass ich als Regisseur zwar eine Vorstellung habe, die Artisten aber erst einmal fragen muss. Die Musiker dagegen halten sich an die Anweisungen des Komponisten.“ Dass er während der Probe ständig zwischen diesen beiden Welten pendeln muss, nimmt er gelassen, seine Anweisungen gibt er ruhig, aber bestimmt.
Mit dieser Komposition hatte Mauricio Kagel sicher seinen Heidenspaß. In „Variété. Concert-Spectacle für Artisten und Musiker“ von 1976/77 setzt er dem Zirkusbetrieb eine Fratze auf, die Melodien stolpern und torkeln von einer Bühnenseite zur anderen. Martin Matalon, der wie Kagel in Buenos Aires geboren wurde, hat daran mit seinem Stück „Caravanserail“ angeknüpft. Auch er ist bei der Probe dabei, denn heute wird ausschließlich an seiner Komposition gearbeitet. Mit den übergroßen Partiturseiten 251 in der Hand sitzt er ein paar Meter entfernt vom Dirigenten Franck Ollu, während kurzen Unterbrechungen eilt er zu einzelnen Musikern und gibt ihnen Spielanregungen.
Die Partitur ist das Buch der Musik: Ganz genau ist hier jedes Instrument mit seinen Noten niedergeschrieben, damit die Ideen und Visionen des Komponisten die Zeit überdauern und immer wieder zu klingender Musik werden können. Dass sich manches nicht gut notieren lässt – genaue Phrasierungen, Tempi oder Ausdruck zum Beispiel – gibt uns heute die Gelegenheit, herrlich über Interpretationsfragen zu streiten. (AV) ↩
6 Fragen an Martin Matalon
Knut Gminder
Nur kein Stillstand! Da rumort das Klavier, das Akkordeon klappert, und der Bogen schabt auf den Cellosaiten, dazwischen helle Klangtupfer vom Vibrafon. Matalon hat sich beim Komponieren in Details verliebt. Den für die Artisten so wichtigen Puls hat er in seinem musikalischen Mosaik versteckt. „Er sollte einen Rhythmus schaffen, der keiner ist“, so Knut Gminder. „Menschliche Bewegungsabläufe folgen bestimmten physikalischen Vorgaben. Wir produzieren ständig und unbewusst Rhythmen. Jede Artistik basiert auf Wiederholungen in diesen Bewegungsabläufen.“ Von den Klängen geleitet, wuseln die Artisten über die Bühne. Ab und zu verschwinden sie auch hinter der Schattenwand, die ihre Silhouetten abzeichnet. Mal rempelt man sich an, kurz verschränken sich die Körper zweier Artisten, doch schnell gehen sie wieder ihres eigenen Weges. Obwohl sie sich auch zwischen den Stuhlreihen der Musiker entlang schieben, findet praktisch keine Kommunikation zwischen den beiden Gruppen statt. Noch ist das kein Ort der Gemeinschaft: „Der erste Teil nährt sich immer aus dem Kontrast, da gibt es eine Art kühlen Autismus. Doch der zweite Teil zeichnet mit Kagels Musik ein gemeinschaftliches Bild“, erklärt Knut Gminder. Man darf gespannt sein, wie das bei der Premiere umgesetzt wird!
Knut Gminder
Die dümmliche Tochter der Kunst
„Ich habe das Gefühl, dass das Varieté immer als die kleine, blonde und leider etwas dümmliche Tochter der Kunst gesehen wird“, beschwert sich Knut Gminder. „Deswegen bist Du beim privatwirtschaftlichen Varieté der Unterhaltungsknecht, in dem Moment wo es zu abgefahren wird, verlierst Du das Publikum.“ Es ist ein bisschen so wie mit der Neuen Musik, dem Hornbrillen und Rollkragenpulli tragenden Stiefbruder der Klassik, der jedes Jahr im Oktober nach Donaueschingen pilgert. Wenn man ihn schon dem Publikum eines Abokonzerts zumutet, dann nur in Begleitung von seinen beiden großen Brüdern, der Sinfonie und dem Solokonzert.
Wenn man sich nun aber das vermeintliche Dummchen und den vermeintlichen Stiefbruder auf einem Date vorstellt ... Was passiert dann?
Die Termine:
„Spectacle Spaces“ feiert am 31.12 um 21 Uhr im Frankfurter Bockenheimer Depot Premiere.
Weitere Termine: 1.1.17 um 18 Uhr, 3. - 5.1.17 jeweils
um 19:30 Uhr.
Auf dem Programm stehen Mauricio Kagels „Morceau de Concours – für eine oder zwei Trompeten“ und „Variété – Concert-Spectacle für Artisten und Musiker“. Außerdem wird Martin Matalons Stück „Caravanserail“ uraufgeführt.
Weitere Informationen gibt es hier.