1908 ist ein düsteres Jahr für Arnold Schönberg. Die Krise, die ihn in tiefste Depressionen stürzt und ihm sogar Selbstmordgedanken durch den Kopf jagt, ist mehrdimensional: Zum einen ist da die Affäre seiner Frau mit Malerfreund Richard Gerstl. Zwar kehrt Matthilde Schönberg zu ihrem Mann zurück, jedoch endet der Seitensprung mit dem tragischen Selbstmord des Künstlers. Gleichzeitig wird sich Schönberg einer kompositorischen Sackgasse bewusst. Das formale Gerüst der romantischen Musik, ihre auf klassischen Idealen beruhende Harmonik, hatte spätestens Gustav Mahler ad absurdum geführt. Das war der Gipfel. Wie also sollte es weitergehen?
Nach der Krise ist vor der Krise
Das zweite Streichquartett Schönbergs, vollendet im Sommer 1908, gilt als Wendepunkt zur Moderne. Dass das Kuss Quartett dieses Werk in seiner jüngsten Einspielung ausgerechnet dem dritten Streichquartett von Johannes Brahms gegenüberstellt, ist interessant. Denn im Gegensatz zu Schönberg hatte Brahms seine selbstzweiflerischen Krisenjahre bei Fertigstellung dieser Komposition gerade überwunden.
Mit quirligen Läufen und rhythmischem Übermut rauscht der erste Satz daher. Das Kuss Quartett treibt die Brillanz interpretatorisch so auf die Spitze, dass es in den Ohren klingelt. Gleißend gellen Spitzentöne heraus, manche Betonungen klingen beinahe überdreht. Im zweiten Satz seufzen Portamenti so hingebungsvoll, dass es glitschig wird, auch wenn das Cello-Solo Mikayel Hakhnazaryans am Ende tatsächlich „dolce und grazioso“, also weich und anmutig gelingt. Am tiefsten berührt der traumtänzerische dritte Satz. Innig dringt der Bratschenton William Colemans aus dem Flüstern der anderen Instrumente heraus – wie eine weichgezeichnete Erinnerung.
aus „Litanei“ von Stefan George
Vielleicht interpretiert das Quartett Freude und Schwelgerei im Brahmsschen Spätwerk so überschwänglich, um die Misere bei Schönberg zu intensivieren. Steckt im Ideal des Romantikers nicht bereits ein Hauch der Krise der Moderne? Im (noch tonalen) ersten Satz von Schönbergs Streichquartett kann man sich in der endlosen Ausweitung der Harmonik wahrlich verlieren. Der Schmelz der Primgeigerin Jana Kuss wirkt maskenhaft, wie der hoffnungslose Versuch, einen Fin-de-Siècle-Glanz heraufzubeschwören. Im zweiten Satz regiert endgültig der Irrsinn. Er eiert rastlos umher, wie auf krummer Achse, eine tonale Zuordnung ist unmöglich. Und dann, nach einem kurzen Irren der Melodien durchs Nichts, sprengt Schönberg im dritten Satz nicht nur die harmonische, sondern auch die gattungsspezifische Form seines Streichquartetts.
In die Leere hinein singt plötzlich eine Sopranstimme die ersten Worte des Gedichts „Litanei“ von Stefan George: „Tief ist die Trauer“. Und sie ist nicht tief, sie ist geradezu abgründig in der Interpretation Mojca Erdmanns. Das Fehlen klarer Strukturen, sowohl in der Begleitung der Instrumente als auch der Harmonik, lässt die warme Strahlkraft ihrer Stimme noch wohltuender wirken. Wie perfekt sie ihren Stimmfluss selbst in heikelsten Extremen beherrscht, wird im letzten Satz „Entrückung“ deutlich. Aus huschenden Streichernebeln und vibrierenden Melodien leuchtet sie heraus, überstrahlt selbst im Pianissimo die erste Geige.