Von Anna Vogt, 18.11.2016

Noblesse und Wahnsinn

Wo liegt nochmal Bergen? Mit seinem neuen Chefdirigenten Edward Gardner beweist das Bergen Philharmonic Orchestra auf seiner Deutschland-Tournee, dass man das norwegische Städtchen nicht unterschätzen sollte. niusic-Autorin Anna Vogt war im Auftaktkonzert in Berlin.

Nebliger Regen in Berlin. Oder ist es nasser Nebel? Mit so einem Wetter kennen sich die Musiker des Bergen Philharmonic Orchestra vermutlich aus. Immerhin kokettieren sie auf ihren Pressebildern mit dem Schlecht-Wetter-Image ihrer Heimat Norwegen und posieren mit Regenschirmen auf der Hafen-Mole, vorsichtshalber lieber ohne Instrumente. Musiker vor Dampfer vor Wolkenfront. Hat auch seinen Charme.
Wettermäßig lässt sich aber Berlin nichts erzählen am 15. November, als das Bergen Philharmonic Orchestra bei Temperaturen knapp über der Nullgrenze das erste Konzert seiner Europa-Tournee spielt. Etwa zwei Flugstunden und gut 1300 Kilometer südlich von seiner musikalischen Heimat ist das Orchester mit seinem Chefdirigenten Edward Gardner derzeit in vier deutschen Städten unterwegs: Berlin, Bremen, Braunschweig und München. Mit im Gepäck sind auch der norwegische Cellist Truls Mørk (gebürtiger Bergener!) und die Münchner Violinistin Veronika Eberle, die sich mit den Solokonzerten abwechseln.

Romantik im Dreierpack

Für das Auftaktkonzert begibt sich das Bergen Filharmoniske Orkester, so der Name auf norwegisch, gleich auf die ganz große Bühne: in das Konzerthaus Berlin. Und für einen Dienstag Abend im November ist dieses erstaunlich gut besucht. Das Programm mag seinen Teil dazu beigetragen haben, folgt doch die Dramaturgie dem gängigen Erfolgsmodell Ouvertüre 174 – Solokonzert 56 – Sinfonisches Werk. Norwegisches ist nicht dabei, stattdessen gibt es Wagner, Elgar und Berlioz. Romantik also in ihrer ganzen Vielfalt: transzendent und sehr sanglich bei Wagner, nobel und elegisch bei Elgar (dessen Cellokonzert trotz seines Uraufführungsjahrs 1919 noch eine deutlich romantische Sprache spricht), und schließlich mit einem Schuss Wahnsinn und großen Effekten bei Berlioz. Es ist ein anspruchsvolles Programm, keine Frage. Vor allem aber macht es Spaß und berührt, beim Zuhören ebenso wie beim Musizieren.

  1. Diese Form ist was für Mittelpunktsmusiker. Ein oder mehrere Solisten werden vom Orchester begleitet. Antonio Vivaldi hat nicht nur die "Vier Jahreszeiten" komponiert, er war ein Tüftler und Neuerfinder des Konzertrades. Bei seiner Revolution des Concerto Grosso gibt es viel zu entdecken, seine Solokonzerte sind irrsinnig virtuos. (CW)

  2. Eigentlich soll man sich seine Hits ja immer bis zum Schluss aufsparen. In Opernouvertüren wird diese Regel aber generell missachtet. Oft gibt es hier ein Medley der schönsten Melodien der folgenden Oper, manchmal aber auch neue musikalische Gedanken. Im Laufe der Zeit wurden Ouvertüren immer vielseitiger eingesetzt, außerdem durften manchmal, wie bei Tschaikowski, sogar Kanonen mitspielen! (MH)

Von den ersten Klängen der „Rienzi“-Ouvertüre an offenbart das Bergen Philharmonic seine Stärken: kieksfreie Blechbläser mit Stahlnerven, einen dickflüssigen, dabei nicht klebrigen Streicherklang und eine generelle technische Gelassenheit, die aber keineswegs die Emotionen runterkühlt, sondern sie erst möglich macht. Schon in der Ouvertüre kann Edward Gardner daher mühelos gestalten und formen und Kontakt mit seinen Musikern aufnehmen, wie es sonst bei Profi-Orchestern leider nicht immer selbstverständlich ist. Wenn die fünf Schlagwerker agieren, wird ihr Enthusiasmus allerdings hin und wieder von der Saalakustik gestraft, dann lärmt und knallt es etwas zu sehr, auch an den lauten Stellen im Elgar-Konzert.

Elgars Cellokonzert ist Knochenarbeit für den Solisten. Zumindest wenn er sich ins tobende Auge des Sturms begibt und nicht die Böen und Wolkenfelder wie aus der Ferne beschreibt.

Dieses Cellokonzert, in dem sich die Weiten und das Wetter der englischen Landschaften spiegeln, geht Solist Truls Mørk ziemlich „nobilmente“ an. Das ist zwar für den Beginn des ersten Satzes dem Cello so auch vorgeschrieben, und doch würde man sich später manchmal weniger Zurückhaltung wünschen. Und mehr Mut zum Risiko, zur großen Emphase. Dieses Konzert ist Knochenarbeit für den Solisten mit seinen endlos langen Melodien, seinen sperrigen Akkorden 9 im Solo-Cello und seinem wahnwitzig schnellen 2. Satz. Doch Mørk fasst die „Englishness“ dieses gewaltigen Epos etwas spröde auf, pflegt einen eher gläsernen als warmen Ton. So entsteht ein bisweilen distanzierter Eindruck: als würde der Solist, anstatt sich ins tobende Auge des Sturms zu begeben, die Böen und Wolkenfelder lieber wie ein Zuschauer aus dem sicheren Cottage beschreiben. Etwas mehr Spritzigkeit und Tempo hätte vor allem dem Scherzo nicht geschadet, das in Mørks eher gemächlichen Spielart ein wenig etüdenhaft gerät.

  1. Was für orgiastische Zustände: Mindestens drei Töne gleichzeitig bilden einen Akkord, Ausnahmen bestätigen die Regel. Tri-tra-trullala, das ist der Durakkord. Die Familie der Akkorde ist groß: Quartsextakkord, Septnonakkord und verminderter Akkord.Viel Spaß beim Rätseln. (CW)

Mangelnde Leidenschaftlichkeit oder distanziertes Spiel kann man den Musikern im zweiten Teil des Abends wahrlich nicht vorwerfen. Mit seiner „Symphonie fantastique“ hat Hector Berlioz in fünf „Szenen“ bereits 1830 die Tür zur Programmmusik weit aufgestoßen. Dieses Ausnahmewerk ist großes Klangkino. Und genau so musiziert das Bergen Philharmonic: mit Hingabe, Spielfreude und genau kalkulierten Effekten. Gardner, nun auswendig dirigierend, treibt seine Musiker dabei zu Höchstleistungen an. Schon zu Beginn gelingt der schnelle Aufgang der ersten Violinen – für jedes Orchester eine Zitterpartie – mit der erwähnten Gelassenheit ganz souverän. Später können vor allem die Bläser nochmal ihre solistischen Qualitäten beweisen, wie im 3. Satz, wenn sich Englischhorn und Oboe traurige Melodien zuspielen. Und zuletzt, wenn der tragische Held dieser Alptraum-Musik zum Schafott geführt wird und der ganze Wahnsinn in einem aufgepeitschten Hexensabbath endet, haben Gardner und sein Orchester keine Hemmungen vor den großen Wellen dieser Musik: Sie treiben den Puls der Zuhörer mit stampfenden Rhythmen und brachialer Blechbläser-Gewalt in die Höhe. Ein tolles Finale und ein gelungener Start in die Tournee, der mit viel Applaus und Standing Ovations belohnt wurde.

Das Bergen Philharmonic Orchestra

Das Bergen Philharmonic Orchestra mit derzeit 101 Musikern hat eine erstaunlich lange Geschichte: 2015 feierte es sein 250-jähriges Bestehen. Eng verbunden ist es auch mit Norwegens musikalischem Nationalhelden Edward Grieg. Dieser leitete das Bergen Philharmonic in den Jahren 1880 bis 82. Die orchestereigene Konzerthalle in Bergen heißt daher – natürlich! – Grieg-Halle. Dass es die Musiker ab und zu aus dem beschaulichen Bergen in die Ferne und vor allem auf die großen Bühnen Europas treibt, ist nicht verwunderlich. Das Orchester war schon eingeladen u.a. bei den BBC-Proms in der Royal Albert Hall, im Concertgebouw Amsterdam, im Wiener Musikverein, der Berliner Philharmonie und der berühmten New Yorker Carnegie Hall. Natürlich hat es auch eine Gesamteinspielung der Orchesterwerke von Edward Grieg vorgelegt, daneben aber auch Vielbeachtetes von Messiaen, Strawinski und – zuletzt – die anspruchsvollen Gurre-Lieder von Schönberg. 2015 hat das Orchester außerdem eine eigene „Digital Concert Hall“ eingeführt, in der regelmäßig die Konzerte gestreamt werden – und das komplett kostenlos.
Im letzten Jahr hat sich das Orchester mit dem Briten Edward Gardner, der zuvor acht Jahre lang die English National Opera leitete, einen der ganz Großen als neuen Chefdirigent sichern können. Ein Jahr lang hat er nun bereits intensivst die Bergener Truppe auf seine Klangvorstellungen und Visionen eingeschworen. Und das englische Temperament scheint mit dem norwegischen gut zusammenzupassen. Davon kann man sich derzeit auf der Deutschland-Tournee des Orchesters überzeugen: Nach den Konzerten in Berlin (15.11., Konzerthaus), Bremen (16.11., Die Glocke) und Braunschweig (17.11., Stadthalle) folgt zum Abschluss ein Gastspiel in München (18.11., Prinzregententheater).

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