Von Malte Hemmerich, 03.08.2019

Vergesst die Maestri

Dirigenten: Sie sind die letzten diktatorischen Dinosaurier in der Klassikwelt, behandeln Menschen unwürdig, können keine Kritik ab und verpesten mit ihrem Jetset-Leben den Planeten. Aber wer traut sich, ihnen das zu sagen?

Dass ein Dirigent bei einer Opernaufführung ausgebuht wird, ist ungefähr so wahrscheinlich, wie einem Löwen in freier Wildbahn zu begegnen.
Bei der diesjährigen „Tannhäuser“-Premiere in Bayreuth passierte es, da gab es weniger Buhs für die mutige Regie von Tobias Kratzer als für einen beim Schlussapplaus sichtlich unsicher umherschauenden Valery Gergiev, der sich daraufhin gar nicht mehr so richtig an den Bühnenrand zu trauen schien. Die Buhrufe trafen einen Dirigenten, der zu den gefragtesten und umjubeltsten Klassik-Menschen auf der Welt zählt. Wann hat Gergiev wohl zum letzten Mal offene Abneigung gegen seine musikalische Arbeit zu spüren bekommen?

Kritik an Sängern. Ok. Kritik am Orchester. Nun gut, kommt immer wieder mal vor. Doch wer sagt es den großen Dirigenten, wenn sie einmal danebenliegen? Und wessen Ego kann die Kritik dann gut annehmen, wenn seit Jahren am Pult nur pure Macht zu spüren ist und ein buckliges Bataillon an umtriebigen Assistenten jede üble Stimmung fernzuhalten sucht?

Wer kritisiert da? Gergiev in Bayreuth.

So ist es fast ein Wunder, dass Valery Gergiev offensichtlich die Kritiken zu seinem Bayreuth-Abenteuer in die Finger bekam und sogar dazu Stellung nahm. Vielleicht ja gerade aus dem Helikopter, der den Gefragten angeblich zwischen den Proben in Salzburg und Bayreuth hin und her shuttelt. Wie BR-Klassik berichtet, meint Gergiev: „Verantwortung trage ich nur vor dem Komponisten – nicht vor dem, der etwas über diesen schreibt." Ob sich jemand traut, dem Maestro zu erläutern, dass es durchaus Richard Wagners Wunsch war, dass Orchester, Chor und Sänger gemeinsam einsetzen? Wahrscheinlich nicht.

Wohl jeder, der Musik irgendwie liebt, hat auch schon einmal diesen Kick spüren wollen, wenn hundert Musiker grandiose Musik spielen und eine Handbewegung den Unterschied macht, oder hat vielleicht sogar im Schlafzimmer einmal verstohlen mitdirigiert. Gleichzeitig eine Art Schöpfer schönster Klänge und doch unantastbar, weil die eigentliche Kunst nicht greifbar ist. Dirigent sein ist einer der letzten Traumjobs, keine Frage.

Aber anscheinend kann es in dieser Position allzu leicht zu Realitätsverlust kommen, was vielleicht für einen reinen Künstler noch in Ordnung geht, gefährlicher ist aber das Abhandenkommen von Kritikfähigkeit für jemanden, der gleichzeitig eine Art künstlerischer Gesamtverantwortlicher ist.
Stattdessen finden wir hier Auswüchse, die an exzentrische Rockstars erinnern. Und die mit der Musik und deren Komponisten, um die sich die Meister doch immer ach so gern kümmern, überhaupt nichts zu tun haben: Schwindende Haarprachten dürfen nur aus bestimmten Winkeln gefilmt werden, und das (stille) Wasser muss genau 10 Grad haben, sonst droht der Abbruch. Legenden steigen nach der Probe vom Pult herab, damit die bereitstehende gackernde Hofjournalisten-Entourage über maßgefertigte Witze lacht, sie diktieren wichtige Weisheiten, statt Interviews zu geben. Oder es kommt sogar zu einer Art geistigem Missbrauch, wie zuletzt in Berlin.

Dirigenten sind nämlich, und das werden sie meist nicht müde zu betonen, nur die höchsten Diener der Sache.

Tausende Kilometer davon entfernt musizierte Gergiev gestern übrigens wieder munter in Tokio, nur um dann in der nächsten Woche nach Bayreuth zurückzufliegen, danach geht es nach New York. Greta Thunberg verschluckt bei dieser Öko-Bilanz vor Schreck mehr als nur Gergievs winzigen Taktstock.
Und man fragt sich, ob es in all diesen Metropolen nicht junge Talente gibt, die mit intensiver Probenarbeit vor Ort ähnliche, wenn nicht gar bessere Ergebnisse schaffen könnten als die umherjettenden Maestri. Denn auch wenn die Zeit der Diktatoren am Pult angeblich vorbei ist, die der Dirigenten mit der unantastbaren Macht-Aura ist es nicht. Das ist gut, macht viel Reiz aus und führt immer wieder zu wünschenswerten Ergebnissen. Denn irgendwas, ob es Erfahrung, Wissen oder eine besondere Gabe ist, sorgt dafür, dass die Konzerte mancher Meisterdirigenten zu etwas Unwiderbringlichem werden. Doch es ist wichtig, dass diese Künstler auch irgendwie geerdet bleiben, nicht nur im Sinne der Ökobilanz. Dirigenten sind nämlich, und das werden sie meist nicht müde zu betonen, nur die höchsten Diener der Sache. Wenn sich aber das rauschhafte Machtgefühl aus dem Musikmoment auf der Bühne auf das alltägliche Leben auswirkt, trübt das den Blick.
Dann geht es in vielen Fällen nicht mehr nur um Musik. Im Gegenteil: Sie leidet unter Ego oder Erschöpfung des Maestro.

© Pixabay
© Screenshot BR Tannhäuser-Livestream


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.