Wikipedia kennt „Freispiel“ als pädagogische Methode in Kindergärten: Mit ihr sollen Kinder darin gefördert werden, eigenständig Spiele zu entwickeln und zu gestalten. Nur der eigenen Fantasie folgen, allein oder mit anderen, in einem klar definierten zeitlichen und örtlichen Rahmen. Das freie, gedankenverlorene Spielen ohne Zweck und Ziel scheint uns heute vor allem ein Bonus der Kindheit zu sein, den man im Laufe des Älterwerdens immer mehr verliert. Gerade bei angehenden Musikern bedeutet, ein Instrument zu „spielen“, ja vor allem oft: knochentrockenes Üben, Stunde um Stunde, meist alleine, mit schmerzenden Schultern und mitunter großen Selbstzweifeln.
Die Junge Deutsche Philharmonie, Deutschlands bestes Studentenorchester, versucht mit ihrem Format „FREISPIEL“, sich ein Stück weit das zurückzuerobern, was im durchstrukturierten Studentenalltag der hervorragend ausgebildeten Musiker allzu oft auf der Strecke bleibt: Freiheit, Kreativität und Selbstbestimmung. Schmerzende Rücken und diszipliniertes Proben gibt es zwar auch hier, bei den intensiven Proben- und Konzertphasen des Orchesters. Aber eben auch: gemeinsam Musik atmen, Sinnstiftung. kollektives Adrenalin vor den Konzerten und neue Freundschaften, die aus geteilten Erfahrungen und geteilter Leidenschaft erwachsen. So lebt die Junge Deutsche ein Ideal von Orchestergemeinschaft und wird nicht, wie leider viele Profi-Orchester, von Ermüdungserscheinungen und Routinelethargie abgestumpft. Wenn das Besondere zum Alltäglichen geworden ist.
Die Junge Deutsche Philharmonie
In der Jungen Deutschen Philharmonie finden sich die Profis von morgen zusammen. Geprobt wird mehrmals im Jahr während der Semesterferien, danach gibt´s ausgedehnte Konzerttourneen. Das Orchester wurde 1974 von ehemaligen Mitgliedern des Bundesjugendorchesters gegründet. Der besondere Anspruch: Von Anfang an sah sich das Orchester als demokratisches Kollektiv, das sich selbst verwaltet und Entscheidungen gemeinsam trifft. Hierarchien werden flach gehalten, autoritäres Gehabe hat hier keinen Platz. Daher gibt es auch keinen Chefdirigenten, stattdessen diskutiert und entscheidet das Orchester gemeinsam über Programmauswahl und Besetzungsfragen. Einen künstlerischen Berater und ersten Gastdirigenten aber gönnt man sich. Lange Zeit hatte diese Funktion Lothar Zagrosek inne, 2015 übernahm Jonathan Nott diese Aufgabe. Das Orchester bildet für seine Mitglieder, die in der Regel zwischen 18 und 28 Jahren alt sind, das Scharnier zwischen Hochschule und Beruf. Es bereitet die Instrumentalisten auf eine Laufbahn im Orchester vor und ermöglicht ihnen Begegnungen mit berühmten Musikern, Reisen durch Deutschland und die ganze Welt und ein Ringen um einen gemeinsamen musikalischen Spirit. Unter den Studentenorchestern bildet die Junge Deutsche mit ihrer Selbstbestimmung eine große Ausnahme – doch aus ihr gingen Orchester mit ähnlichen Idealen hervor, wie das Ensemble Modern, die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen oder das Freiburger Barockorchester.
Das „FREISPIEL“ gönnt sich die Junge Deutsche alle zwei Jahre im Sommer, als Ergänzung zu ihren gängigeren Proben- und Konzertphasen. Es ist eine Carte blanche fürs Orchester. Denn bei diesem Projekt sind die Mitglieder nicht nur Musiker, sondern auch Planer, Dramaturgen, Macher, Visionäre. Der Titel verspricht: Alles ist möglich, es gibt Raum für Experimente, für Unkonventionelles und Überraschendes. Und das dennoch auf höchstem Niveau. Das „FREISPIEL“ wagt auch den Blick in eine mögliche Zukunft der Branche, in der man noch stärker als heute um das Publikum wird kämpfen müssen, in der man die Leute erstaunen, mitreißen, verblüffen, aber auch mal verstören wird. In der man immer wieder darum ringen wird: Warum begeistert uns Musik, und wie können wir diese Begeisterung teilen? Das äußert sich im Programm, aber oft auch in Form von ungewöhnlichen Orten fernab der etablierten Kultur-Tempel, die während „FREISPIEL“-Tournee mit Musik in Berührung kommen. Wie 2014 beim Projekt „pubblico“, als in Berlin und Frankfurt u.a. ein Kino, ein Museum und die Freimaurerloge zur Einigkeit bespielt wurden.
Richard Wagner
Dieses Jahr heißt das Projekt-Motto „UN/RUHE“. Es ist ein kryptischer, vieldeutiger Titel, der eine Brücke baut zwischen den drei Werken des Konzertabends: Rebecca Saunders´ Violinkonzert „Still“ von 2011 wird umrahmt von Wagners Vorspiel zu „Tristan und Isolde“ aus dem Jahr 1860 und Alban Bergs „Lulu-Suite“ (1934) 88 für Koloratursopran 105 und Orchester. Geigerin Carolin Widmann und Dirigent Sylvain Cambreling, die das Violinkonzert vor fünf Jahren uraufgeführt hatten, konnten schnell für das Projekt begeistert werden. Denn das Konzert wird um eine Dimension erweitert: um die Sphäre des Tanzes. Dafür verwandelt die Tanzcompagnie von Sasha Waltz & Friends Saunders´ Instrumentalkonzert 56 in Tanz, in puren, lebendigen Ausdruck.
Und das verbindende Element der Konzert-Trias? Die Gegensätze von Fortschritt und Stillstand, Bewegung und Stille, Unruhe und Ruhe. So steht zugleich auch der Titel „Still“ von Saunders´ Konzert stellvertretend für das ganze Projekt, denn der bedeutet auf Deutsch nicht nur „still, leise“, sondern vor allem auch: „immer wieder“ oder „noch immer“ – und bezieht sich damit auf die ewige Veränderung und Durchdringung der europäischen Musikgeschichte, wie sie sich in „UN/RUHE“ mit Musik aus drei Jahrhunderten entfaltet. Ein Dialog der musikalischen Sphären, der Augen und Ohren öffnet, wenn man sich darauf einlässt.
Diese Form ist was für Mittelpunktsmusiker. Ein oder mehrere Solisten werden vom Orchester begleitet. Antonio Vivaldi hat nicht nur die "Vier Jahreszeiten" komponiert, er war ein Tüftler und Neuerfinder des Konzertrades. Bei seiner Revolution des Concerto Grosso gibt es viel zu entdecken, seine Solokonzerte sind irrsinnig virtuos. (CW) ↩
Wenn Komponisten Stücke wie Allemande, Courante und Gigue in einer Suite bündelten, dann waren diese barocken Tänze der alten Adelshöfe nicht mehr für das Tanzparkett bestimmt, sondern für den Konzertsaal. Aber auch die musikalischen Highlights aus Ballett und Oper finden in der kondensierten Form der Suite ihren Weg auf die Konzertpodien. (AV) ↩
Koloraturen sind was für Angeber und gerade deshalb wunderschön. Diese oft unheimlich schnellen, schwierigen Melodie-Verzierungen geben den Sängern die Möglichkeit, ihr Können zu zeigen. Viele Komponisten haben sie ihren Lieblingen quasi auf den Leib geschrieben, was Profisänger noch heute schlaflose Nächte bereitet (AJ) ↩
„FREISPIEL“ 2016
Die Junge Deutsche Philharmonie gastiert mit ihrem interdisziplinären Konzert-Format „FREISPIEL“ am 14. August in Darmstadt (20 Uhr, Böllenfalltor-Halle), am 16. & 17. August im Radialsystem in Berlin (jeweils um 20 Uhr) sowie am 19. und 20. August im Weimarer Congresszentrum (19.30 Uhr). Auf dem Programm stehen das Vorspiel zu Richard Wagners „Tristan und Isolde“, Rebecca Saunders´ neue Version ihres Violinkonzerts „Still“ sowie Alban Bergs „Lulu-Suite“. Sylvain Cambreling dirigiert, Ana Durlovski singt die Sopranpartie in Bergs Suite, und Carolin Widmann ist Solistin des Violinkonzerts von Saunders. Die Compagnie von Sasha Waltz & Guests tanzt eine Choreografie von Antonio Ruz.