Von Sophie Emilie Beha, 30.04.2021

Kachelkaleidoskop

Das Projekt „1000 Scores. Pieces for Here, Now & Later“ macht sein Publikum zu Performer:innen. Es schafft, was all die Online-Festivals und digitalen Konzertformate nicht hinbekommen: eine Atmosphäre von Live-Performance. Ein Selbstversuch.

Ich höre eine Stimme. Sie ist leicht elektronisch verzerrt und erklingt gleichzeitig in verschiedenen Intervallen. Wie mehrere Stimmen, die zu mir sprechen. Es klingt so, als wollen sie mich hypnotisieren. Sie sprechen eine Anweisung: Ich soll es mir bequem machen. In einem Stuhl oder im Sonnenlicht. Wie praktisch – mir scheint tatsächlich gerade die Sonne auf die Beine. Dann sagt mir die Stimme, ich soll meine Augen schließen und zuhören. Ich höre. Meinen Atem. Und das Brummen vom Kühlschrank. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, ich höre nicht nur mit den Ohren, sondern auch mit dem Körper. Meine Haut kribbelt. Irgendwann reißt meine Aufmerksamkeitsspanne und ich klicke auf den nächsten Score.

Mein Wohnzimmer und meine Vorstellungskraft sind die Bühne.

Die „Blindspot Meditation“ von Inga Huld Hàkonardòttir ist Teil des Projekts „1000 Scores. Pieces for Here, Now & Later“ von Helgard Haug, David Helbich und Cornelius Puschke. Jeder Score – also jede Komposition, Aufnahme, digitale Performance – ist eine Auftragsarbeit. Regelmäßig werden neue Scores hinzugefügt. Im Frühjahr 2020 entstand die Notwendigkeit für DIY-Performances. So werden die Rezipierenden selbst zu Performance-Künstler:innen. Das private Umfeld wird Ort der Interaktion. Mein Wohnzimmer und meine Vorstellungskraft sind die Bühne.

„1000 Scores"

Ich scrolle auf der Webpage umher, wie wenn ich durch einen Gedichtband oder eine Bilderstrecke blättere. Die einzelnen Scores sind als schwarz-weiße Kacheln angeordnet. Ich klicke relativ wahllos darauf und fühle mich gleichzeitig bewusst als gestaltender Teil der Gesamtaufführung (wenn man es so nennen kann), seitdem ich auf der Seite gelandet bin.
Ich klicke auf die nächste Kachel: „Touching, Feeling“ von Zainab Magdy. Ich soll vier Kleidungsstücke aus meinem Schrank holen und vor mir ausbreiten. Weil ich keine Lust habe, von der sonnengefluteten Bank aufzustehen, stelle ich sie mir vor. Ich adaptiere die Scores. Wandle sie nach meinem Gusto ab. Mache sie mir zu eigen. Ist das schon Interpretation oder eher Faulheit? Und ich ahne: Je mehr ich mich hierauf einlasse, desto mehr kann ich erfahren, spüren, die Scores mit Leben füllen.

Ich frage mich, ob man immer jede Erfahrung sofort auf sich selbst beziehen muss.

Mein Klick fällt auf „Waiting with Waves“. Das Gedicht von Maxi Obexer berührt mich. Das Lyrische Ich beschreibt, wie es die Leere des Nichtstuns mit Aktivitäten füllt. Ich finde diese fremde, sehr persönliche Perspektive schön. Dann unterbreche ich den Lesefluss und überlege, womit ich meine Covid-Tage gefüllt habe, grüble ein bisschen darüber nach und lese weiter. In dem Gedicht zählt das lyrische Gedicht ständig Dinge: Wellen, Schatten, Katzen … Mir fällt auf, dass ich so etwas nie tue. Und ich frage mich, ob man immer jede Erfahrung sofort auf sich selbst beziehen muss.

Ich stelle mir in Nika Bertrams „LOUDER than the SUN“ vor, ich wäre ein Radio. Ich spiele verschiedene Sender und Genres, stelle die imaginäre Musik ganz laut und tanze durch mein Zimmer. Dann singe ich in „Chaos Choir“ von Asa Berezny über eine wiederkehrende Akkordfolge, was mir gerade in den Sinn kommt. Pauline Jacobs „2,1%“ ist wie ein digitales Spielzeug: Zu hören ist ein einzelner Ton. Bewegt man seinen Cursor über den Bildschirm ändert sich die Tonhöhe, und der Cursor zieht eine Art Kondensstreifen hinter sich her. Ich male und singe Loopings, Glissandi, springe zwischen Intervallen hin und her.

Ein Spaziergang auf der anderen Seite des Ufers

Die Scores stellen eine Nähe zu den Künstler:innen her, obwohl man sie weder sieht, noch hört. Aber vielleicht ist es genau das: Das Herzstück dieses Projekts ist schließlich das, was man normalerweise nur selten zu Gesicht bekommt. Die Scores handeln von der Nähe zu Menschen und Dingen oder zu mir selbst. Es geht um die Vergegenwärtigung des aktuellen Zustands. Sie werfen mich auf mich selbst zurück. Eine Kritik fällt schwer, wenn man selbst die Performancekünstlerin ist. Es schadet aber nicht, einmal die Trennung zwischen Künstlerin und Rezipientin aufzuhebeln und einen Spaziergang auf der anderen Seite des Ufers zu machen. Die Scores lassen mich in die Köpfe ihrer Schöpfer:innen schauen. Ein Perspektivwechsel. Ich habe Teil an ihren Gedanken, Sichtweisen und Arbeitsprozessen. „1000 Scores“ schafft das, was die unzähligen Online-Festivals und digitale Konzertformate nicht können: Es entsteht die Atmosphäre einer Live-Performance. Mitsamt nervöser Spannung. Dass ich Aufführende und Publikum zugleich bin, tut der Sache keinen Abbruch. Überhaupt nicht.

© Screenshots


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