Die Neue Musik, sie ist die Gewürzgurke im Big Mac der Musikwelt: Von Fast-Food-Liebhaber:innen naserümpfend verschmäht, fristet sie ihr wenig apartes Dasein zwischen saftigen Beethoven-Patties und zartschmelzenden Schumann-Scheiben. Geschmacklich ist sie ein bisschen zu speziell, ihre Konsistenz immer ein wenig labberig. Nun ist ein bedeutender Vertreter der zeitgenössischen Avantgarde gestorben. Das Echo in den Medien ist gewaltig. Doch das liegt nicht an den Gürkchen.
Im Kino wurde Ennio Morricones Filmmusik als stilbildend und innovativ gefeiert. Die E-Gitarren und das Schlagzeug, die Pfiffe und das Peitschenknallen, das alles war ungewöhnlich und erfrischend, so anders als die traditionellen symphonischen Hollywood-Soundtracks in spätromantischer Manier. Die altmodische Academy brauchte gut vierzig Jahre, um das zu erkennen und Morricone höchstergeben seinen ersten Oscar zu überreichen. Heute werden die Kompositionen in klassischen Konzertsälen der ganzen Welt nachgespielt.
Die gesamte Filmwelt trauert um das kreative Genie, um den „Spiel mir das Lied vom Tod“-Komponisten. Die Medien feiern Ennio Morricone als heiligenscheinbekranzte Filmmusiklegende, als Maestro des Wilden Westens. Seine Filmmusik ist für sie die Soße, die sich fett und reichhaltig über Zwiebelwürfel und Salatfetzen ergießt. Doch nicht Geschmacksverstärker, Konservierungsstoffe und Lebensmittelfarbe sorgen für den besonderen Genuss. Sondern das Gurken-Relish.
Ennio Morricone
Schon zu Lebzeiten beklagte Ennio Morricone das Desinteresse des Publikums an seiner Konzertmusik. Er komponierte nicht nur für den Film, er widmete sich gleichermaßen der absoluten Musik und der Improvisationskunst. Eingelegt in seine Soundtracks sind Klänge, bei denen konservative Konzertgänger:innen angewidert das Gesicht verziehen würden, fänden sie sich in einer klassischen Konzertsituation mit ihnen konfrontiert: Atonalität à la Anton Webern, Noise Music wie bei John Cage, Tonbandaufnahmen nach Art der musique concrète.
So wirbelt die Melodie zu Beginn seines Klavierstücks „Canone e ricerare“ staccatohaft und in unregelmäßigen Rhythmen auf und ab, schlägt unerwartet einen Haken mal hierhin, mal dorthin. Selten erklingt mehrmals hintereinander derselbe Ton. Die seriell anmutende Vokalkomposition „Questo è un testo senza testo“ für Knabenchor wiederum lebt von einem melodischen und rhythmischen Gegeneinander der Kinderstimmen, die sich dann in lautmalerischem Sprechgesang, zu Wortbrocken und Lautfetzen, vereinigen. Ennio Morricones Kompositionen sind Experiment und Spiel. Mithilfe verschiedenster musikalischer Stilmittel erschuf der Italiener Soul Food im Stil der europäischen Nachkriegsavantgarde, die das musikalische Denken weiterentwickeln wollte und damit den Grundstein legte für die Vielfalt des heutigen Musikgeschehens.
Doch auch nach Morricones Tod ist seine „musica assoluta“ den Nachrufler:innen höchstens einen Nebensatz wert. Damit fällt die Pluralität eines Künstlers, ebenso wie die der gesamten Musikszene, dem Geschmack eines Publikums anheim, das Ungewohntes als sperrig empfindet und nur dann akzeptiert, wenn ein finster dreinblickender Clint Eastwood dazu den Colt schwingt.
Saure Gurken und Neue Musik: Sie sind dabei, aber keiner will sie haben. Der gemeine Burger- und Musikliebhaber sollte sich trotzdem verbieten, sie herauszupulen. Sie tragen wesentlich zum vollen Geschmackserlebnis bei.