Von Hannah Schmidt, 30.03.2020

Netflixverwöhntes Balg

Jetzt, wo alle brav zu Hause bleiben, kann man sich vor Musikstreams kaum retten. Im Grunde ist das eine schöne Idee, findet Hannah Schmidt – nur möglicherweise nicht so ganz kompatibel mit den Ansprüchen ihres faul gewordenen Gehirns.

Ich hatte es mir wirklich vorgenommen. So ganz ernsthaft. Ich wollte das Berio-Bartók-Konzert der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle am 12. März gucken, wie ich es sonst im Konzert gehört hätte: von Anfang bis Ende, still und andächtig, aufmerksam, mich konzentrieren auf die Interpretation, als ob ich drüber schreiben müsste. Die Berliner in meinem Wohnzimmer, sowieso eine tolle Vorstellung, und dann auch noch live statt mit teilweise jahrzehntelanger Verspätung auf Youtube. Gerade jetzt tat das so gut, wo diese Art des Konzerthörens die einzige Alternative zum Hingehen zu sein schien.

Als das Orchester ohne Applausgeräusch die Bühne betrat, war klar, dass ich es vielleicht nicht durchhalten werde.

Es war nicht der erste Konzert-Livestream, den ich geschaut habe, wirklich nicht, da gab es in der Vergangenheit doch einige. Aber es war der erste, den ich wirklich zelebrieren wollte: so tun, als wär ich im Konzert. Ohne Pizzakarton auf dem Schoß und Whatsapp nebenher. Ich stellte also das iPad auf den Couchtisch und setzte mich hin, mit geradem Rücken, versetzte mein Telefon in den Flugmodus und wartete. Aber schon als das Orchester ohne Applausgeräusch die Bühne betrat, war klar, dass ich es vielleicht nicht durchhalten werde. Es war extrem komisch. Eloquenterweise griff Rattle genau das auf: Niemand wisse, was passiere, wenn die Musik aufhört, außerdem fänd‘ er es selbst seltsam, ohne Publikum zu spielen. Und so weiter.

Ich musste lachen.
Und dann schaltete mein Gehirn nach und nach ab.

Im dritten Teil der Berio-„Sinfonia“ für acht Stimmen und Orchester war ich schon halb in die Waagerechte gesunken. Meine Gedanken schweiften ab. Ich griff nach dem Smartphone. Legte es wieder hin. Nahm es fünf Minuten später wieder hoch und holte es aus dem Flugmodus. Ciao, Aufmerksamkeit.
Mir ist jetzt klarer als zuvor: Mein Gehirn ist ein netflixverwöhntes Balg. Ja, im Konzert kann ich mich konzentrieren: Da sitze ich auf meinem Platz, auf meinen 50 Quadratzentimetern, rechts und links und vor und hinter mir andere Leute, die die Luft anhalten und möglichst keine Geräusche von sich geben. Drumherum ein Raum, der fantastisch klingt, und eine Lichtregie, die die Aufmerksamkeit auf die Bühne lenkt. Ich bin der Musik ausgesetzt, kann nicht einfach raus. Selbst wenn die Gedanken abschweifen, bleibe ich gewahr, in diesem Raum zu sein. Ich reflektiere zwar, über irgendetwas, denke nach, aber finde mich immer wieder in den Moment zurück und höre aktiv zu.

Gewöhnt an das überflutende Angebot von Streamingdiensten weiß mein präfrontaler Cortex, dass er sich keiner Sache länger als eine Minute aussetzen muss, die ihn langweilt.

Diese Konzertsituation zwingt mich, bei der Musik zu bleiben, sie fordert meinen Geist, und ja: Auch alle anderen Menschen drumherum erwarten von mir, dass ich die Klappe halte und mein Handy ausschalte. Der Bildschirm zwingt mich nicht dazu. Oben links ist ein kleines „x“, das ich drücken kann. Oder das Pausezeichen. Das kostet mich nicht einmal eine Sekunde. Gewöhnt an das riesige, überflutende Angebot von Streamingdiensten weiß mein präfrontaler Cortex, dass er sich keiner Sache länger als eine Minute aussetzen muss, die ihn auch nur ansatzweise langweilt. Und genauso schnell bin ich dann auch weg: fesselt mich nicht, schließen, weitersuchen. Die Suche nach einem Film, der gut sein könnte, dauert so oft länger als der Film selbst. Genauso die Suche nach einem guten Konzert: Bei Youtube oder Spotify fliege ich quer durch die Aufnahme, springe von einem Satz zum nächsten, höre in die entscheidenden Stellen rein – ja, ich „höre rein“ –, und suche weiter.

Streaming und Konzentration wirken auf mich wie Gegensätze. Die Plattformen sind so angelegt, dass man schon beim ersten Blick von jeder Art der Konzentration weggerissen wird: Es geht nicht darum, einen Film zu sehen, sondern möglichst viele. Einen Film auszuwählen, bedeutet, ganz viele andere währenddessen nicht gucken zu können, und diese Tatsache schreit einen an, manchmal sogar noch unmittelbar vor dem Film in Form von Werbung. Und je mehr Filme man schaut – oder nur anfängt zu schauen –, desto mehr erfährt der Betreiber über seine Nutzer:innen und kann sie auch desto effektiver über personalisierte Vorschläge dazu bringen, noch mehr zu gucken.

Da haben wir’s.

Binge-Watching ist nur ein Effekt, der aus dieser Art der Zuschauer:innenbindung hervorgegangen ist: Serien werden so erzählt, dass man im Grunde gar nicht abschalten kann, und folglich schaut man sie stundenlang am Stück. Mir passiert das auch. Immer öfter muss ich dabei jedoch zurück spulen, weil ich durch irgendetwas abgelenkt war. Tatsächlich kann langes Bingen die Leistungsfähigkeit des Gehirns beeinflussen, haben Forscher der University of Melbourne 2018 herausgefunden: Das Gedächtnis wird schlechter und die kognitive Leistungsfähigkeit nimmt ab. Da haben wir’s.

Vor allem beobachte ich bei mir selbst, dass es mir zu Hause vorm Bildschirm extrem schwer fällt, bei der Sache zu bleiben. Schnell und spannend erzählte Filme haben sich auf entsprechenden Gehirnkapazitäts-Abbau und Aufmerksamkeits-Anspruchs-Aufbau eingestellt und schaffen es trotzdem, dass ich irgendwie dran bleibe – klassische Konzerte hingegen haben es im Vergleich extrem schwer. Da ist es selten, fürchte ich, die Musik selbst, die mich fesselt – viel öfter, fürchte ich, ist es die Situation, die Atmosphäre, sind es die Menschen um mich herum und auf der Bühne. Sogar für die Musiker:innen scheint es einen erheblichen Unterschied zu machen, ohne Publikum zu spielen: Das Stimmen dauerte nur einen Bruchteil der Zeit, die es sonst dauert, und zwischendurch klapperten hier und da die Übergänge. Als litt auch dort auf der Bühne vor den leeren Rängen die Aufmerksamkeit, als fehlte auch dort das Adrenalin.

„Zwischensituation zwischen Aufnahme und Konzert“

Thorsten Schmidt

In der vergangenen Pressekonferenz des Heidelberger Frühlings sprach Intendant Thorsten Schmidt von einer „Zwischensituation zwischen Aufnahme und Konzert“, bei der genau das fehle: „in dieses Konzert zu gehen, zu merken, wie der Geräuschpegel absinkt, die Spannung steigt, der erste Ton erklingt.“ Trotzdem will er es jetzt versuchen, „einen Hauch von dem, was geplant war, für das Publikum erlebbar zu machen, es auch in diese Zeit hinüber zu retten.“ Ob das gehe? Er sei gespannt.

Ist das alles nun eine Bankrotterklärung für die gestreamte Klassik? Ich muss zugeben, der Beethoven spielende Igor Levit in Socken auf meinem Küchentisch während ich Curry esse – das ist extrem weit entfernt von jeglichem Kult, der der Klassik so gern nachgesagt wird. Aber auch ziemlich weit weg von Beethoven, irgendwie. Gestreamte Klassik wird vielleicht häufig zum derartigen Abendessen-Hintergrundgeplänkel werden, ubiquitär, banal. Es sei denn, wir setzen dem etwas entgegen. Wir können unsere Gehirne hart versuchen dazu zu zwingen, dran zu bleiben, auch wenn wir gerade lieber E-Mails checken oder aufstehen und Blumen gießen wollen würden. Wir können es zu einer Erziehungsmaßnahme machen, zu einer Art Training. Das Hirn mal an die kurze Leine nehmen. Eingeschlossen im eigenen Wohnzimmer, völlig unterreizt, weil uns Gesellschaft und persönliche Interaktion fehlen, die Konzentration auf ein eineinhalbstündiges Konzert richten. Let’s give it a try. Vielleicht gehen wir daraus etwas erwachsener hervor. Und weniger anfällig für gehirnschmelzende Sofort-Befriedigung.

© pexels


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