Die Wohnung in der Nähe des Amsterdamer Zentralparks ist riesengroß und hell. Der Blick geht zur Rechten auf die schmale Straße und zur Linken durch winterkahle Bäume auf einen Schotterweg im Grünen, auf dem unzählige Menschen mit Handschuhen und Mützen hintereinander her joggen. Sie seien erst vor wenigen Monaten hier eingezogen, erzählt Jaap van Zweden, man lebe sich noch ein. Er räumt eine aufgeschlagene Partitur vom Küchentisch – Mahler? –, belässt seinen Taktstock wie ein Lesezeichen darin, setzt sich. Die Noten sind das einzige, was in diesem Raum nicht drapiert aussieht.
Amsterdam nennt van Zweden sein zu Hause, obwohl er nur etwa drei Wochen pro Jahr tatsächlich hier verbringt. Seit 2018 leitet er das New York Philharmonic Orchestra, seit 2012 das Hong Kong Philharmonic Orchestra und lebt somit eigentlich mehr zwischen Amerika und Asien als zwischen Grachten und Ziegelsteinen. In den vergangenen Jahren dirigierte er jedoch wieder häufiger das Concertgebouw-Orchester, in dem er selbst 17 Jahre lang Konzertmeister war.
Jaap van Zweden gehört zu den Stars der niederländischen Musikwelt. Am liebsten sähen ihn viele als nächsten Chefdirigenten des Concertgebouw-Orchesters – wenn es auch aktuell nicht danach aussieht –, davon abgesehen bekommt er im Mai den Concertgebouw-Preis verliehen, der an Menschen geht, die sich um das Haus besonders verdient gemacht haben. Wer ist dieser Dirigent? Was sind die Themen, die ihn umtreiben – und ist Amsterdam wirklich sein "place to be"?
niusic: Manche niederländische Journalist:innen würden Sie gerne als den nächsten Chefdirigenten in Amsterdam sehen. Was meinen Sie dazu?
van Zweden: Ich weiß es wirklich nicht. Als Dirigent lebe ich von Woche zu Woche und ich genieße, was ich tue. Das sage ich zu den Leuten, mit denen ich arbeite, und zu mir selbst: Mir ist es wichtig zu schätzen, was ich habe. Ich glaube nicht daran, endgültige Ziele im Leben zu haben. Ehrlich gesagt halte ich es für Zeitverschwendung, über solche Dinge zu spekulieren …
niusic: Ich habe Sie ja auch nicht darum gebeten in die Zukunft zu schauen …
van Zweden: Das kann ich auch nicht. So viele Menschen um mich herum treffen Entscheidungen, und am Ende werden wir sehen, was passiert. Ich hatte eine wunderbare Woche hier in Amsterdam – aber ich hatte auch wunderbare Wochen mit anderen Orchestern.
niusic: Wahrscheinlich antworten Sie mir dann ähnlich auf diese Fragen: Wollen Sie nach 2022 in New York verlängern? Und in Hong Kong?
van Zweden: Wir haben darüber nicht so viel gesprochen. Aber ja, das ist möglich.
niusic: Anfang des Monats haben Sie Strawinskis „Sacre du printemps“ mit dem Concertgebouw-Orchester gemacht, nur wenige Monate zuvor mit den New Yorkern. Ist der Unterschied sehr groß?
van Zweden: Ja, ich denke schon. Man spürt einen völlig anderen Zugang zu dem Werk: Die New Yorker spielen direkter und mehr auf der Stuhlkante als die Amsterdamer.
niusic: Tatsächlich? Das wundert mich jetzt.
van Zweden: Ich würde sagen, das hängt mit der Gesamtsituation in Amsterdam zusammen. Die Musiker:innen verlassen sich, natürlich, auf diesen unglaublichen Raum, der ihnen da geschenkt ist. Da kannst du dir als Instrumentalist:in sicher sein, dass aus deinem Instrument immer etwas Schönes herauskommt, selbst wenn du es nur mit der geringsten Intensität spielst. In New York ist das etwas anderes. Da müssen wir die Akustik selbst kreieren, durch unser Spiel.
niusic: Vor 25 Jahren haben Sie noch als jüngster Konzertmeister der Geschichte des Orchesters selbst im Concertgebouw-Orchester gespielt, jetzt stehen Sie immer häufiger als Dirigent vor dem Ensemble. Hat sich das Orchester sehr verändert?
van Zweden: Ein Orchester kann sich natürlich jede Woche verändern, das hängt ganz davon ab, wer vor ihm steht. Aber ich würde sagen: Als ich noch Konzertmeister war, hatte das Orchester einen ganz typisch niederländischen Holzbläserklang – sehr direkt und hell. Mittlerweile ist es aber so international, dass ich, wenn ich da bin, mehr Englisch spreche als Niederländisch. Diese typische Schule gibt es nicht mehr – doch ich sage gar nicht, dass das weniger interessant für mich ist. Es ist einfach anders als damals in den 80ern und 90ern.
niusic: Das Gleiche passiert ja bei Orchestern auf der ganzen Welt …
van Zweden: … und es verändert sich noch etwas ganz Zentrales: Es gibt Gott sei Dank immer mehr Frauen in den Orchestern.
niusic: Und vor den Orchestern.
van Zweden: Ja, in der internationalen Dirigent:innenszene! Als ich in Dallas war, hatte ich alle zwei, drei Jahre neue Assistenten. Und meine letzten vier Assistenten waren Frauen – Frauen, die jetzt großartige Karrieren machen. Ich habe sie damals aber nicht ausgewählt, weil sie Frauen waren – sondern weil sie unter den Bewerber:innen einfach die besten waren. Von 50/50 sind wir noch weit entfernt, ich hoffe aber, dass das in zehn oder zwanzig Jahren anders sein wird. Und normal, und gut.
niusic: Sie feiern in New York dieses Jahr mit dem „Project 19“ 19 Komponistinnen, Anlass ist der 100. Jahrestag der Verabschiedung des Artikels 19 in der amerikanischen Verfassung – dem Moment, in dem Frauen das Wahlrecht erhielten. Ist es nicht traurig, dass wir 100 Jahre später immer noch darum kämpfen müssen, dass Komponistinnen gespielt werden?
van Zweden: Das ist es. Und ich denke es ist wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass dieser Tag erst 100 Jahre vorbei ist. Wie verrückt ist das bitte? Mit diesen Projekten machen wir uns bewusst, wie seltsam unsere Geschichte eigentlich ist. Wir erinnern uns nicht einfach nur an diesen Tag, sondern wir feiern ihn.
niusic: Ich frage mich immer öfter: Wann sind solche Veranstaltungen endlich überflüssig?
van Zweden: Wenn es in unserer DNA angekommen ist. Es ist nicht gut, dass wir diese Art von Festen noch feiern müssen, aber solange es erst 100 Jahre her ist, sollten wir uns vor Augen halten, dass es erst 100 Jahre her ist. Dafür ist es wichtig.
niusic: Sie setzen in New York generell sehr viel zeitgenössische Musik aufs Programm, das ist ungewöhnlich. Warum?
van Zweden: Weil ich denke, dass wir in einem goldenen Zeitalter der klassischen Komposition leben. Es gibt so viele tolle Komponist:innen, die unglaubliche, fantastische Musik schreiben. Wenn wir die nicht spielen, wird die Klassische Musik sterben.
niusic: Was braucht denn ein zeitgenössisches Werk, um wirklich gut zu sein?
van Zweden: Seltsamerweise habe ich das nicht zu entscheiden, das liegt beim Publikum. Wir sollten nie vergessen, dass die Entscheidung über Geschmack und das Bewusstsein über ein wirklich gutes Stück nicht bei uns Interpreten liegt. Am Ende sind die Komponist:innen heutzutage alle von den gleichen Werken und jeweils voneinander beeinflusst. Ich stelle es mir vor wie ein Haus: Es beginnt mit Händel und Bach und baut sich Schicht für Schicht darauf auf. Wenn man sich in diesem Haus bewegt und zurück geht zu Bach, sieht man, dass alles miteinander verbunden ist – und es endet nicht bei Strawinski!
niusic: Aufgenommen haben Sie aber vor allem Repertoire von deutschsprachigen Komponist:innen früherer Epochen: Bruckner, Wagner, Mahler – wieso diese Richtung?
van Zweden: Ich habe diese Richtung nicht bewusst gewählt, sondern habe mich eigentlich immer von allem inspirieren lassen. Abgesehen von den Aufnahmen dirigiere ich am einen Abend eine Matthäuspassion und eine Woche später eine Uraufführung. Beides beeinflusst sich gegenseitig: Ich denke, ich dirigiere einen besseren Bach wegen des „Sacre du printemps“ und einen besseren „Sacre“ wegen Bach. Von sogenannten „Spezialist:innen“ halte ich deshalb nicht viel – bei allem Respekt.
niusic: Wieso haben Sie eigentlich überhaupt angefangen zu dirigieren? Wo Sie doch als Violinist so erfolgreich waren.
van Zweden: Wir waren im Berliner Konzerthaus zu Gast, und Bernstein wollte den Raum hören. Er stellte mich dafür vors Orchester – Mahlers Erste, übrigens. Danach kam er zu mir und meinte: Ich denke, du solltest das ernst nehmen. Dirigat studieren und schauen, ob du es magst. Er war eigentlich derjenige, der mich dazu gebracht hat.
niusic: Und dann? Sie haben ja noch zwei Jahre weiter im Orchester gespielt.
van Zweden: Ich habe ein bisschen beides gemacht, aber als mir irgendwann klar wurde, dass ich wirklich dirigieren will, habe ich die Geige aufgegeben.
niusic: Komplett?
van Zweden: Ja. Ich habe seit 15 Jahren nicht mehr gespielt. Mir war klar: Das größte Risiko ist es, kein Risiko einzugehen.
niusic: Fühlen Sie sich eigentlich nicht ein wenig zerrissen – zwischen diesen so unterschiedlichen, weit voneinander entfernten Welten? Kann man wirklich überall zu Hause sein?
van Zweden: Mein Zuhause ist noch immer Amsterdam, denn ich wurde hier geboren, und wo die Familie ist, da ist auch mein Zuhause. Aber ich würde nicht sagen, New York oder Hong Kong sind mein zweites oder drittes Zuhause, sie sind mein anderes Zuhause. Das ist etwas anderes. Aber in Amsterdam werde ich hoffentlich sterben.
niusic: Sie denken schon übers Sterben nach?
van Zweden: Ja, jeden Tag. Warum nicht?
niusic: Weil es bis dahin hoffentlich noch etwas hin ist …?
van Zweden: Zu viele Menschen denken darüber nicht nach. Aber wenn du den Tod nicht umarmst, umarmst du auch das Leben nicht.
© Chris Lee