Eigentlich ist Klassik ja wirklich nicht alltagstauglich. Nimmt man etwa eine dreistündige Oper oder anderthalb Stunden Sinfonie – wer hat zwischen Terminen, Uni oder auf einer Bahnfahrt Zeit, sich so etwas gänzlich anzuhören? Gerade wer Musik nicht im Hintergrund, sondern bewusst hören will, muss sich überlegen, welche Versatzstücke es in die Liste der persönlichen Lieblinge schaffen.
Praktischerweise sind die meisten Werke ja in irgendeiner Form unterteilt, so dass man direkt zu den Nummern springen kann, die sich beim eigenen Geschmack bewährt haben. Ich zum Beispiel höre gerne beobachtend und bin deswegen eine große Liebhaberin kleiner Besetzungen. Von Solo bis Kammerensemble verschlinge ich alles, was mir die Welt einer neuen Interpretation eröffnet. Ich möchte Details entdecken, miteinander in Beziehung setzen. Ein Grund, warum ich immer wieder am zweiten Satz der Beethoven’schen „Appassionata“ hängen bleibe. Es ist die Feinheit dieser Klaviermusik, die mich begeistert; wie sie sich fortspinnt, Ruhe gönnt, perfekt vorbereitet auf einen stürmischen dritten Satz. Wer vergleichen will, höre sich neben Evgeny Kissin noch die Interpretationen von Alfred Brendel oder Igor Levit an. Während Brendel noch innehält, drängt Levit schon voran, lässt einen beim Hören nicht so richtig zur Ruhe kommen, als würde er schon spüren, dass in der Ferne der Tumult naht.
Gerade das Kunstlied 131 gibt mir in einem vollen Alltag immer wieder die Möglichkeit, für ein paar Minuten abzutauchen. Sehr gerne höre ich dafür Franz Schuberts „Winterreise“. Ich kann immer wieder neu entscheiden, welchen Teil des Weges ich mitgehen will. Am meisten fasziniert mich der Abwechslungsreichtum im „Frühlingstraum“. Die schnellen Charakterwechsel in der Musik, immer nur wenige Takte hell, dann wieder ganz düster, überraschen mich immer wieder. Ein weiteres Stück, bei dem ich mich ganz auf ein Instrument und den Spieler einlassen kann, ist „Asturias“ von Isaac Albéniz. Thibault Cauvin spielt Gitarre solo. Mal bleibt er ganz schlicht, dann werden die Klänge weicher, tänzerischer, bauen sich auf, immer temperamentvoller lässt er die Saiten klingen, dann zieht sich die Musik wieder bescheiden zurück. Ähnlich wie im Allegro des 8. Streichquartetts 117 von Ludwig van Beethoven. In der Interpretation des Quatuor Èbène tritt jede der vier Stimmen mal besonders hervor, dann sind alle wieder ebenbürtig, ergänzen sich, geben die Dynamik weiter. Eine empfindsam komponierte Musik trifft auf Spielende, die sich deren Reichtum ganz hingeben.
Sitzen vier Musiker zusammen und spielen nein, nicht Karten, sondern ein Quartett. Die kleine Form ist flexibel und klingt trotzdem ausgewogen. Vor allem das Streichquartett gilt unter Komponisten als Königsdisziplin. Viele nutzten sie als Experimentierwerkstatt, in der sie bahnbrechende Ideen im Kleinen ausprobieren konnten. (AJ) ↩
Welche Arroganz! Kunstliedern wird nachgesagt, dass sie anspruchsvoller und erhabener sind als Volkslieder. Letztere funktionieren über das Prinzip Stille-Post, Abwandlungen im Laufe der Zeit inklusive. Kunstlieder umfassen alle Zeiten, the-time-of-the-time war im 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts. Kunstlieder sind niedergeschrieben, der Autor des Textes hat eine ebenso große Bedeutung wie auch der Komponist. Endlich einmal ausgleichende Gerechtigkeit! (CW) ↩
Natürlich kann aber auch ich mich nicht dem Bann sinfonischer Werke entziehen. Was wären der vierte Satz der 9. Sinfonie „Aus der neuen Welt“ von Antonín Dvořák oder der sechste Satz aus Gustav Mahlers 3. Sinfonie ohne das Orchester? Beide Werke sind inspiriert vom Entdecken der Welt. Ob Dvořák auf Reisen zu neuen Kontinenten oder Mahler, wenn er das Erwachen des Frühlings vertont. Eine solche Weite verlangt nach großen Klangkörpern. Ich liebe es aber auch Musik zu hören, die durch die Beine geht. Dafür gibt es für mich keinen besseren Song als Miriam Makebas „Pata Pata“. Mit dem ersten Klavierklang packt mich der Groove und ich will intuitiv lostanzen.
Umso interessanter ist auch, dass ich gerade dann gerne Pop höre, wenn er den üblichen Rahmen von dreieinhalb Minuten übersteigt. Justin Timberlake schafft in der Originalversion von „What Goes Around Comes Around“ einen Song von über sieben Minuten, den ich jederzeit der Kurzversion vorziehen würde. Er ist genau auf das dazugehörige Musikvideo zugeschnitten und wenn ich nur die kurze Albumversion höre, habe ich das Gefühl, mir wäre die Geschichte nicht bis zum Ende erzählt worden.
Schließen möchte ich mit einem Stück aus dem Bereich der Minimal Music. Steve Reichs „Music For 18 Musicians“ beginnt mit gleichförmigen, verhaltenen Klängen, die sich sich dann ins Unermessliche steigern. Je länger man das Stück hört, desto ekstatischer wird es. Es lebt von seiner Dauer, eine Stunde lang halten die rhythmischen Wiederholungen an. Und in solchen Momenten muss man sie sich eben nehmen. Diese Zeit.