Von Selina Demtröder, 26.12.2019

Glanz und Gloria?

Lebkuchen, Kerzenschein und Weihnachtslieder zum Mitsingen: Das macht ein traditionelles Weihnachtsfest aus. Oder etwa nicht? Dietrich Henschels neue CD „X-Mas Contemporary“ gibt ein paar außergewöhnliche Antworten auf die Frage, was an Weihnachten eigentlich wichtig ist.

Weihnachten ist immer das Gleiche. Immer der gleiche Mandelstand auf dem Weihnachtsmarkt, immer die gleichen Kugeln am Baum, immer die gleichen Lieder aus der Box. Das scheint auch Bariton Dietrich Henschel zu nerven. Seine neue CD „X-mas Contemporary“ ist zumindest ganz und gar nicht für Spekulatius-Glühweinabende mit den Liebsten gemacht. Wenig Harmonie, keine herzerwärmenden Texte und die Weihnachtsstimmung muss man suchen.

„Was ist Weihnachten für dich?“ Das fragt Henschel verschiedene Komponistinnen und Komponisten, unter anderem Annette Schlünz und Manfred Trojahn. Die Antworten findet man im ersten Teil der CD: zwölf Neukompositionen, die einen ganz persönlichen Blick auf Weihnachten werfen. Teil zwei enthält überraschenderweise altbekannte Weihnachtslieder, die dem Konzept der CD zufolge ja eigentlich keinen Platz haben dürften. Ein bisschen ist das, als hätte man den Liedern aus Mitleid und der Weihnachtsstimmung zuliebe noch einen Stall zur Geburt angeboten. Oder findet Henschel Weihnachten doch nicht so nervig und die Klassiker dürfen deshalb nicht fehlen?

Ein bisschen ist es, als hätte man den Liedern aus Mitleid und der Weihnachtsstimmung zuliebe noch einen Stall zur Geburt angeboten.

Zusammen mit dem ensemble unitedberlin interpretiert Henschel die gegebenen Antworten. „The Mistletoe“ von Karim Al-Zand bildet den recht einfach zu hörenden Einstieg in die zeitgenössische Weihnachtswelt. Es ist eine Vertonung zweier Gedichte, „Mistletoe“ von Walter de la Mare, in dem die Einsamkeit an einem Festtag Thema ist und „Weihnachten 1866“ von Ferdinand Freiligrath, in dem die Mistel als Zauberin auftaucht: Weihnachtliche Stimmung blitzt da ganz leise durch Glockenspiel und silbrig glänzende Akkorde auf oder in choralähnlichen Bläserblöcken, wie man es vom Weihnachtsmarkt kennt. Auch wenn man dadurch an festliche Trompeten und Lametta am Baum denkt, geht die Stimmung beinah unter in dem Wust von Disharmonie und Lautstärke von Sängern und Ensemble. Auch in „White silence“ von José María Sánchez-Verdú hört man ansatzweise typische Wintermotive. Über gedämpfte und leise Töne der Flöten und Trompeten flüstert Dietrich Henschel, das bildet eine weiße Akustik ab, die von Pieter Brueghels Bild „Winterlandschaft“ inspiriert ist.

Auf der Suche nach dem Weihnachtsglanz

Manfred Trojahn schichtet in "Christmas greetings from a fairy to a child" unterschiedlich tonale Melodien übereinander, die eine große Spannung erzeugen. Horn und Gesang setzen sich über den Streicherteppich und erzeugen eine sonderbar beruhigende Atmosphäre. Harmonie entsteht immer dann, wenn es um die kindliche Wahrnehmung von Weihnachten geht: Das Leben ist ein berauschendes Fest, nicht nur Weihnachten. Beim Hören der CD ist dies einer der wenigen Momente, die man beinahe weihnachtlich finden kann, ohne viele Hintergrundinformationen zu dem Werk zu kennen.

Dann gibt es das Lied „Geburt“ von Jamie Man, das den Vorgang einer Geburt beschreibt, mit gruseliger, aufdringlich lauter Stimme, und anatomisch vielleicht einen Deut zu genau durch den Sprechgesang von Henschel beschrieben. Es quietscht und dröhnt und wummert und ist alles in allem doch ziemlich verstörend. Nicht gerade weihnachtlich kommt auch „La Blancheur abolit le temps“ daher, eine wilde Trance in einem Zug. Ein Paradoxon, da die Musik wild und aufbrausend ist, den Hörenden mit Tonhöhen beschallt, die an Tinnitus erinnern. Vor allem ist das nicht besinnlich, wenn man bedenkt, dass es eigentlich eine Zugfahrt inmitten einer weißen Landschaft darstellen soll, die aus dem Zugfenster beobachtet wird. Annette Schlünz nimmt den Hörenden mit auf diese wirre, anstrengende Fahrt. Aber genau diese Brüche mit der eigenen Erwartung von Besinnung regen zum Nachdenken darüber an, ob das ruhige Fest der Liebe überhaupt dem märchenhaften Bild entspricht: ruhig und warm und glänzend.

Zurück zur Tradition

Diese Gedanken kann man dann weitestgehend mit dem Auflegen der zweiten CD abschalten. „O Tannenbaum“ wird mit rhythmischen Säge- und Axtgeräuschen begleitet und abgeholzt, Maria geht mit tiefen, hart angeschlagenen Akkorden des Klaviers überdramatisch durch den Dornwald und „Kommet ihr Hirten“ klingt tanzend und grenzwertig schnell. Das ist aber vor allem Klamauk, ein Augenzwinkern im Hinblick auf die erste Hälfte.

Wenn man an eine Weihnachts-CD denkt, erwartet man etwas anderes als „X-mas Contemporary“. Das Album ist ein Zugang zu Weihnachten für alle, deren märchenhafte Wintererwartungen enttäuscht werden. Doch sind die Essenzen einzelner Werke so tief im Schneegestöber der Klänge versteckt, dass man sie in der stressigen Weihnachtszeit dann vielleicht doch lieber nicht suchen möchte. Trotzdem kann man hier mit Weihnachtsgedichten, -malereien und versteckten Päckchen dem Fest begegnen und die schnelllebige Zeit durch eine unerwartete Besinnung bereichern.


Responsive image

Detlev Glanert, Annette Schlünz, Manfred Trojahn u.a.

X-mas contemporary

Dietrich Henschel, Vladimir Jurowski et al.

Farao Classics

© Pixabay
© Florian Rauscher (Produktionsbild)


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.