Es gibt ihn, diesen Jansons-Effekt. Jener Moment, wenn sich in einer von Mariss Jansons‘ Interpretationen plötzlich lächelnd ein unbekanntes Universum auftut. Mariss Jansons war ein Meister der Nebenstimmen. Er vermochte es wie kein zweiter, auch den bekanntesten Werken eine augenöffnende Nuance, eine vergessene Mittelstimme, eine neue Klangfarbe abzuringen, ohne hierbei mit erhobenem Zeigefinger oder gar Sendungsbewusstsein zu agieren. Vielmehr entstanden seine Interpretationen mit entwaffnender Bescheidenheit: Sein Wissen um die Partitur, aber auch um die inneren Prozesse eines Orchesters schien grenzenlos.
Mit großer Offenherzigkeit begegnete Jansons seinen Klangkörpern, so dass man stets den Eindruck hatte, dass das Musizieren hier im Einvernehmen entstand. Seine größte Tugend war die Aufrichtigkeit, im Umgang mit den Musikerinnen und Musikern, im Umgang mit der Musik. Getrieben von schier unbändiger Neugier aktivierte Jansons seine Orchester, er lauschte mit ihnen den entstehenden Klängen, lud sie gestisch und mimisch dazu ein, zu kommunizieren, in Kontakt zu treten. Ähnlich wie Claudio Abbado befand sich mit Mariss Jansons ein Überzeugungstäter am Dirigentenpult, der unaufhörlich feilen und horchen konnte und der die Potentiale jedes noch so renommierten Orchesters zusätzlich zu entfesseln vermochte – stets mit tief empfundenem Interesse für seine menschlichen und musikalischen Gegenüber.
Simon Rattle
Als Simon Rattle 2015 zu seinen möglichen Nachfolgern bei den Berliner Philharmonikern befragt wurde, antwortete er über Mariss Jansons ohne Umschweife: „Er ist der Beste von uns allen!“. Marco Frei beschreibt Jansons in seinem umsichtigen Nachruf in der NZZ als „Orchester-Flüsterer“. Den „Unfassbaren“ nennt ihn Markus Thiel im Münchner Merkur, in Anbetracht all der Attribute, mit denen Jansons beschrieben wird. Die schönsten und persönlichsten Erinnerungen teilt der ehemalige Hörfunkdirektor des Bayerischen Rundfunks in seiner von Leben prall gefüllten Würdigung eines herzlichen Mariss Jansons.
All diesen Beschreibungen ist eine Faszination für diesen unprätentiösen Suchenden Mariss Jansons gemein. Jansons suchte stets nach den inneren Wahrheiten der Werke, die er aufführte. Wenn es in den Noten stand, musste man es auch hören. Und dies funktionierte im Größten wie im Kleinsten. So etwa am Beispiel der Eröffnung von Beethovens 7. Sinfonie A-Dur. Urplötzlich erklingt in den Klarinetten ein neuer, belebender Kontrapunkt und man fragt sich, ob diese Noten schon immer dort so gestanden haben. Hören Sie einmal diese erste Minute, und sagen Sie nicht, Sie hätten diese Klarinetten bei 0:23min jemals vorher schon wahrgenommen:
Ebenso konnte Jansons die komplexesten sinfonischen Gebilde zu verständlichen Formen werden lassen, wie es etwa der monumentale, 50minütige zweite Satz aus Mahlers 8. Sinfonie belegt: Ein Geflecht, das plötzlich innere Bezüge, unterschiedliche Klangwelten und strukturelles Leben wie unter einem Mikroskop deutlich werden lässt, ohne den großen Bogen zu verlieren.
Jansons´ Lebensstationen
Klanglich wächst Jansons durch die Sammlungen seiner musikalischen Einflüsse. Dort, wo Mrawinski etwa mit der mentalen Strenge eines Schachgroßmeisters an der Genauigkeit der Partitur gearbeitet hatte, machte Jansons aus diesem Wissen eine emotionale Tugend. Und dort, wo Karajan mit unerbittlicher Energie am sämig-verschmelzenden Gesamtklang gefeilt hatte, brachte Jansons die Klangfarbe als eigenständigen Parameter wieder neu und reflektiert ins Spiel, ohne sie als Selbstzweck zu begreifen.
Mit wieviel Lebensfreude und Spaß ihn dabei etwa auch die Wiener Neujahrskonzerte erfüllten, die er dreimal dirigierte, lässt sich nicht nur an den halsbrecherischen Tempi der diversen Galopps und Polken der Johann-Strauss-Familie hören, die die Wiener Philharmoniker gehörig ins Schwitzen brachten, sondern auch am ironischen Dirigieren des Publikums, als es Jansons im Radetzky-Marsch nicht intensiv genug mitklatscht (ab 00:00:57):
Eine besondere Nähe verband ihn jedoch aufgrund seiner Biographie mit den Werken Dmitrij Schostakowitschs. Jansons‘ Aufnahme aller 15 Sinfonien nimmt bis heute den Platz eines klingenden Vermächtnisses für ihn ein. Als Jansons 2006 nach zehn Jahren ohne Opern, deren umfangreiche Einstudierungen ihn und seine fragile Gesundheit stets stressten, in den Orchestergraben zurückkehrte, stand mit Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ nicht weniger als das russische Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts auf dem Spielplan: Gewalt und Machtmissbrauch, Zynismus und Groteske, Ausweglosigkeit und bittere Gesellschaftsstudie zwischen Gulag und verlachter Menschlichkeit. Ein Werk, das 1936 seinen Autor in die Zangen von Stalins Machtapparat getrieben hatte. Ein Abend, der 2006 in Amsterdam neue klangliche Maßstäbe des Musiktheaters setzen sollte.
So wie Jansons sein Concertgebouworkest durch die Untiefen von Schostakowitschs Seele trieb, so wie er aus dem Orchestergraben heraus die Musik das Bühnengeschehen regelrecht verschlingen ließ, so wie er den gerechten Tyrannenmord am gewalttätigen Schwiegervater der Hauptperson zynisch von den Holzbläsern karikieren ließ – so vergaß Jansons dabei doch nie die übergeordnete Ebene eines unterdrückten Humanismus, hörte stets die Kommentarebene der Musik mit, trotz allen Getöses. Und dass das Gebäude der Nederlandse Opera diesen sinfonischen Sturm aushielt, grenzt an ein Wunder.
Am Abend zuvor hatte ich über Umwege und mit Glück die wohl letzte Karte für das Sinfoniekonzert nebenan im Concertgebouw bekommen, mit Schostakowitschs 7. Sinfonie C-Dur, der „Leningrader“. Weil der Andrang so unerwartet groß war, hatte man eilig noch einige Stühle an die Seite der Bühne gestellt. So saß ich zwischen schwerem Blech und Kontrabässen, mit ausgestrecktem Arm hätte ich die sechs Posaunen und das Klavier berühren können. Und vor mir, in der Schneise durchs Orchester, der freie Blick auf Mariss Jansons. In der langgezogenen Invasionsepisode lauerte er regelrecht über der Partitur, die linke Hand minutenlang zur Faust geballt, der Blick unheilvoll und hochkonzentriert, der ganze Körper, die ganze Mimik voller zum Zerreißen gespannter Intensität.
Jene Intensität suchte Jansons auch gerade dem Nachwuchs mit auf den Weg zu geben. Zahlreiche junge Instrumentalistinnen und Instrumentalisten verdanken ihm wichtige Stationen ihrer Biographien, zahlreiche junge Dirigentinnen und Dirigenten ihre Prägungen. Denn mit Jansons‘ wertschätzender und kommunikativer Art, seinen Beruf in umfassendem Wissen und auf Augenhöhe auszuüben, fernab jeder diktatorischer Attitüde vergangener Dirigentengenerationen, prägte er auch das neue dirigentische Selbstverständnis des 21. Jahrhunderts.
Ein besonderes Beispiel seiner Vermittlung zeigte sich in der zweitätigen Conducting-Masterclass, die Jansons 2012 mit den drei Nachwuchsdirigenten Yu Lu, Gergely Madaras und Alexander Prior im Concertgebouw vor großem Publikum abhielt. Jene sechs Stunden des gemeinsamen Probens und Musizierens gehören zu den kostbarsten Eindrücken von Jansons‘ Arbeit: Hier ließ Jansons sein Concertgebouw ein veritables pianissimo aus dem Nichts hervorflüstern, um den jungen Dirigenten einen Eindruck der klanglichen Möglichkeiten mit auf den Weg zu geben. Immer wieder lugt er hinter den jungen Dirigenten hervor, beobachtet und lauscht, gibt Tipps und führt eigene Ansätze vor, regt mit großväterlichem Witz und aufrichtigem Interesse zum Hinterfragen der eigenen Positionen an (ab 00:04:25):
Bis zuletzt hielt sich um Jansons das Narrativ der Überarbeitung, des Nicht-Aufhören-Könnens. Übrigens in seinem Falle schon seit 1996, als ihn ein Herzinfarkt inmitten einer „La Bohème“ fast das Leben kostete. Mühsam und langsam kämpfte er sich auf die Podien und in seine neuen Chefdirigentenpositionen zurück. Seine angegriffene Gesundheit begleitete ihn ständig, machte ihn zum Asketen, überall, nur nicht in der Musik. Fast einstimmig betonen die zahlreichen Erinnerungen an ihn, dass er scheinbar nie zu schlafen schien, dass er jede freie Minute entweder seiner geliebten Familie oder seinen geliebten Partituren widmete. Doch das Bild der Überarbeitung ist schief, Musik war ihm ein Elixier: sie kostete ihn nicht das Leben, sie hielt ihn am Leben. Die Musik als Antrieb machte ihn zu einem Getriebenen. Und zugleich vermittelte Jansons‘ detailversessener Eifer ein Gefühl der Geborgenheit, eine wertschätzende Fürsorge – gegenüber seinen Orchestern, aber auch gegenüber seinem Publikum. Die Musik war bei ihm – im wahrsten Sinne des Wortes – in guten Händen. So wie wir.
Am vergangenen Sonntag ist Mariss Jansons in St. Petersburg im Kreise seiner Familie im Alter von 76 Jahren gestorben.