Von Felix Kriewald, 13.12.2019

Tränenmeer

Wenn man traurig ist, nimmt man Musik anders wahr: eine Playlist für graue Regentage.

Traurigkeit kann neue Perspektiven eröffnen. So haben manche strahlenden Durkantilenen plötzlich die gleiche emotionale Intensität wie eine Elegie in Moll. Zum Beispiel im Andante aus der zweiten Sinfonie von Alexander Borodin. Der Chemieprofessor und Hobbykomponist fügt die Klänge von Harfe, Horn und Klarinette zu einer der schönsten Melodien der Musikgeschichte zusammen und lässt sie nach und nach durch das Orchester mäandern. Einhüllend und warm ist dieses Thema, doch wohnt ihm auch eine gewisse Zerbrechlichkeit inne, die man möglicherweise nur begreift, wenn man selbst gerade etwas näher am Wasser gebaut ist.



Ein halbes Jahrhundert später schlägt der 19-jährige Dmitri Schostakowitsch mit seiner ersten Sinfonie internationale Wellen. Das Lento hat einen ständigen bedrohlichen Puls, und immer wieder taucht aus allen Ecken des Orchesters ein hoffnungslos abfallendes Motiv auf. Die Orchestration zerbröckelt immer weiter, und am Ende bleibt nur noch ein Streichquartett übrig. Als wäre das nicht schon genug Schmerz, setzen zunächst Solooboe und später die Geigen auf das zitternde Gerüst eine Melodie, die zwischen Tristesse und Triumph changiert.



Ein echter orchestraler Brecher ist die fünfte Sinfonie von Sergei Prokofjew. Im Adagio legt sich ähnlich wie bei Schostakowitsch eine zarte, doch fordernde Weise auf den Herzschlag des Orchesters und schickt die Geigen in den ewigen Schnee 277 . Abgesehen davon, dass einem ob der enormen intonatorischen Anforderung die Tränen kommen könnten, verleihen latente Dissonanzen und regelrechte Aufschreie in der Musik diesem Stück einen Anklang wie ein Märchen, von dem man weiß, dass es schlecht ausgeht; eine Art willkommenes Unbehagen.

  1. Streicherklänge aus der drölfzigsten Lage. Wenn man vor lauter Hilfslinien die Töne erraten muss und selbst Fledermäuse die Frequenz nicht mehr hören können, ist man als Geiger ähnlich orientierungslos wie bei einem Schneesturm während einer Polarexpedition. (FK)



Ob opulent besetzte Sinfonie oder Klavierminiatur – jede musikalische Form ist in der Lage, tiefgreifende Gefühle auszulösen. Die Nuages gris (Trübe Wolken) von Franz Liszt sind für ihn und seine Zeit harmonisch experimentell, technisch allerdings eine überraschende Bagatelle. Liszt nutzt übermäßige Akkorde und lässt Dissonanzen unaufgelöst durch den grauen Himmel schweben. So verleiht er dem Stück einen zehrenden, beinahe morbiden Anklang. Das alles schafft Liszt mit nur einer Handvoll Noten.



Das gilt auch für Francis Poulencs kurzen, aber intensiven Liederzyklus Le Bestiaire. Die sechs vertonten Tiergedichte von Guillaume Apollinaire tragen in Text wie Musik eine unvergleichliche Melancholie in sich. Insbesondere die Tibetziege an zweiter Stelle löst mit ihrer um einen Ton kreisenden Melodie bei jedem Hören eine nebulöse Sehnsucht aus.



Klar definierte Empfindungen evoziert der Colloque sentimentale von Léo Ferré. Die lyrische Vorlage von Paul Verlaine beschreibt, wie sich ein ehemaliges Liebespaar bei Nacht trifft. Die eine Figur schwelgt wehmütig in Sentimentalitäten und stellt zaghaft hoffende Fragen, während die andere Seite mit knappen und resignierten Antworten alle Türen verschließt. Die schönste Version dieses Chansons stammt von Philippe Jaroussky, der mit seinem klaren Countertenor 36 in die triste Szenerie entführt.

  1. Eine humane Weiterentwicklung des Kastraten. Wenn ein guter Countertenor singt, kann man seine Stimme für die einer Frau halten. Aber halt: Macht nicht das männliche Grundtimbre erst einen glanzvollen Counter und seinen ganzen Reiz aus? Darüber kann man streiten. Letztendlich ist das aber Geschmackssache. (MH)



Von retrospektiver Wehmut ist ebenso Oú sont tous mes amants? von der Pariser Chanson-Sängerin Fréhel. Auch hier sehnt sich das lyrische Ich nach verflossener Liebe, auch hier transportieren Gesang und Instrumente den traurigen Text auf eine wiegend-elegische Weise. Ein Saxofon im Hintergrund scheint im Refrain auf die Frage, wo all die Liebhaber geblieben sind, zu antworten, doch spielt von Mal zu Mal immer weniger Töne, bis es schließlich ganz verstummt und das lyrische Ich seiner Einsamkeit überlässt.



Musik, die so klingt, wie sich eine Migräne anfühlt.

Das traurigste Stück aus Frédéric Chopins emotionsgeladenem Œuvre ist sein Nocturne Nr. 20 in cis-Moll. Noch intensiver als das Original finde ich das Arrangement von Nathan Milstein für Violine und Klavier. Die koreanische Geigerin Bomsori Kim zieht die schier endlos absteigenden Tonschleifen mit voller Intensität bis in die Tiefen der G-Saite und transportiert gemeinsam mit Pianist Rafał Blechacz mehr Tragik, als es ein Klavier allein je könnte.



Musik, die so klingt, wie sich eine Migräne anfühlt. Wie in Schockstarre gelähmt hält das Orchester einen dissonanten Orgelpunkt, während der Solist mit Septimen, Sekunden und Tritoni jongliert. Wenige Tage nach der Fertigstellung seines Bratschenkonzerts hatte Alfred Schnittke seinen ersten Schlaganfall und erhob das Werk später zu dessen Vorboten. Wie ein resignierter Rückblick auf ein trauriges Leben in der Stunde des Todes fließt die Musik ohne Erbarmen dahin und erschüttert alle Beteiligten, und Widmungsträger Yuri Bashmet spielt immer wieder seinen eigenen Namen: Die Töne B-A-Es-C-H und Mi, also E, ziehen sich durch das gesamte Werk.



Am Ende komme ich ohne eine Spur romantischen Kitsch wohl doch nicht aus. Ein Stück, bei dem ich mir wohl mein Leben lang nach dem Hören die Augen wischen werde, ist die Briefszene der Tatjana aus Pjotr Tschaikowskis Oper Eugen Onegin. Zunächst hoffnungslos, desolat, dann aber schließlich doch von neuem Eifer gepackt, schreibt Tatjana ein Liebesgeständnis an ihren Teuersten und sinkt danach vor lauter emotionaler Überforderung zu Boden. Eine Szene, die jeder nachvollziehen kann, der schon einmal verliebt war. Eine Szene, die bedrückt, wenn man weiß, wie tragisch die Oper ausgeht.



Es kann also auch schön sein, in der Dunkelheit der Musik zu schwelgen und Aspekte zu entdecken, die man vielleicht nur durch eine tränenverschmierte Brille erkennt. Wenn es draußen nicht mehr so nass, kalt und grau ist, muss ich dringend Taschentücher kaufen. Schnief.

© pixabay


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