Von Sophie Emilie Beha, 15.10.2019

Wer hat an der Uhr gedreht?

Wie thematisiert Musik die Zeit? Diese Playlist untersucht verschiedene Herangehensweisen, von Uhrgeräuschen über klackernde Metronome bis hin zu endlosen Tönen.

Tick, tack, tick, tack – was dieses Geräusch macht, weiß wohl jeder. In Joseph Hadyns Sinfonie Nr. 101 in D-Dur spielt allerdings keine Uhr im Orchester mit, obwohl dem Werk dieser Beinname verliehen wurde. Schuld daran sind die swingenden Terzen der Fagotti und Streicher am Anfang des zweiten Satzes und Haydns Verleger Johann Traeg. Die Begleitfigur erinnerte ihn an das Ticken eines Uhrwerks, daher gab er 1798 eine Klavierfassung des Andante als „Rondo. Die Uhr" heraus. Haydn war Weltrekordmeister der Sinfonien, insgesamt komponierte er einhundertvier. Damit man dabei nicht ganz so schnell den Überblick verliert, tragen viele von ihnen Beinamen wie „Der Bär", „Der Philosoph", „Die Henne" oder „Die Sinfonie mit dem Paukenschlag". Das war außerdem gut fürs Geschäft, und Haydn wird es vermutlich nicht gestört haben, dass sein nichtkomponiertes Ticken von anderen als solches erkannt und vermarktet wurde – er kam selbst aus einer Kaufmannsfamilie.



Während man bei Haydn vermeintlich den Sekunden beim Vergehen zuhören kann, schafft Philip Glass genau das Gegenteil. In seinen Werken scheint es oft so, als sei die Zeit völlig aufgehoben. Statt gleichmäßigem Tick-Rhythmus kreisen hier repetitive Muster umeinander in Endlosdauerschleife. Der Durchbruch gelang Glass 1976 mit seiner beeindruckenden Oper Einstein On The Beach, er hatte sich von der Zwölftonmusik 188 der älteren Generation abgewandt und bei Ravi Shankar Rhythmus und Zeitgefühl der indischen Musik gelernt. Sein minimalistischer Stil ist unverwechselbar: Einfache Motive wiederholen sich immer und immer wieder, ab und zu ändert sich ein Ton. Wie ein Astronaut im Weltraum schwebt der Zuhörende losgelöst von einer Akkordfolge 9 zur nächsten.

  1. Was für orgiastische Zustände: Mindestens drei Töne gleichzeitig bilden einen Akkord, Ausnahmen bestätigen die Regel. Tri-tra-trullala, das ist der Durakkord. Die Familie der Akkorde ist groß: Quartsextakkord, Septnonakkord und verminderter Akkord.Viel Spaß beim Rätseln. (CW)

  2. Es ist die wohl einflussreichste Kompositionstechnik des 20. Jahrhunderts. Als ihr Begründer gilt Arnold Schönberg, der von einer Gleichberechtigung aller Töne träumte. Es sollen immer erst alle zwölf Halbtöne einer Oktav erklingen, bevor wiederholt wird. Solche Reihenprinzipien stehen im Vordergrund, Tonalität ist nachgeordnet. Was auch heute noch viele Menschen davon abhält, sich dieser Musik zu öffnen. (MH)



Wann ist ein Stück vorbei? Im Extremfall mit dem Tod des Interpreten?

John Cage weitet mit Organ²/ASLSP den zeitlichen Rahmen einer Aufführung ins Extreme. ASLSP steht für die Spielanweisung, die achtseitige Partitur as slow as possibleso langsam wie möglich zu spielen. Damit gibt Cage der Zeit einen philosophischen Bezug: Wie langsam geht das? Wann ist ein Stück vorbei? Im Extremfall mit dem Tod des Interpreten? Aber vor allem sensibilisiert er sein Publikum, das in diesem Stück vor einer völlig neuen Höraufgabe steht. Die Uraufführung 1989 dauerte 29 Minuten, die längste CD-Aufnahme mit Dominik Susteck 44 Minuten, und die längste Aufführung ist für 639 Jahre geplant. In Halberstadt in Sachsen-Anhalt brummt seit 2001 in einer kleinen, sanierungsbedürftigen Kirche ein stetiger Akkord – das langsamste Konzert der Welt. Hier wird jeder Tonwechsel mit großem öffentlichen Interesse zelebriert. Am 5. September 2020 ist es wieder soweit, dann werden für zwei Jahre gis und e‘ erklingen.



Anfang der 60er Jahre ist die musikalische Avantgarde gespalten: John Cage experimentiert mit dem Zufall, während in Europa die Serialisten eine kontrollierte Musik einfordern. Da versucht György Ligeti mit Poème symphonique für 100 Metronome den Mittelweg. Er spielt mit der Zeit, benutzt sie als Material für seine Komposition. Die Vorgaben sind verhältnismäßig simpel: Metronome aufstellen, unterschiedliche Tempi einstellen, gleich stark aufziehen und gleichzeitig anstoßen. Wie viele von Ligetis Werken klingt das zunächst zum Schieflachen komisch, besitzt aber einen zweiten Boden, die unerwartete Komplexität. Aus dem anfänglichen Chaos entstehen rhythmische, spinnenwebartige Muster, die sich beständig verändern, bis am Ende nur noch ein einzeln klackerndes Metronom übrig bleibt.

Nun hat es die Musik in besonderer Weise mit der Zeit zu tun, genauer gesagt mit deren Messung und Organisation. [So] […] wird die Zeit innerhalb des Musikalischen zum Erlebnis und dadurch zeitlos.

Bernd Alois Zimmermann

Bernd Alois Zimmermann entwirft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine spannende Theorie: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren nicht hintereinander, sondern biegen sich in einer Einheit zu einer Kugelform zusammen. Diese Kugelgestalt der Zeit ist für Zimmermann auch in jeder Musik vorhanden. In seinen Kompositionen verwendet er oft eine Collagentechnik, in der er musikalische Zitate verarbeitet und transformiert. Wie ein Maler übermalt er fremde Bilder, mit sanften Tupfern oder großen, kräftigen Borstenpinselstrichen. Seine Monologe für zwei Pianisten sind „Zwiegespräche oder tausendfache Kommunikation zu Monologen, die über Zeiten und Räume hinweggreifen“. Als Material dienten im dabei Mozart, Beethoven, Bach und Messiaen. Die vielen verschiedenen Herangehensweisen und Umgangsformen von Musik mit der Zeit zeigen, dass es einmal mehr kein Rezept gibt, nur beständiges Nachdenken und Hinterfragen. Zeit bleibt im Kern unerfassbar, ein Faszinosum – wie die Musik.



© unsplash


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