Von Anna Vogt, 19.09.2019

Synapsen im Chaos

Einen Ohrwurm kennt fast jeder. Aber schon mal von musikogener Epilepsie, musikalischen Krampfanfällen oder musikalischen Halluzinationen gehört? Der Neurologe Oliver Sacks hat sich ausführlich mit diesen Phänomenen befasst: ein kurzer Streifzug durch seine Beobachtungen.

Wenn man den falschen Ohrwurm hat, kann das echt lästig werden: Über Minuten, manchmal über Stunden summt es im Gehirn – im schlimmsten Fall einen nervigen Schlager oder eine seichte Popmelodie. Und einen Aus-Schalter gibt es nicht. Wirklich bedenklich wird es aber erst, wenn diese Hirnwürmer, wie der Neurologe Oliver Sacks sie 2008 in seinem Buch „Musicophilia“ nennt, einen wie Zwangsstörungen quälen und einen normalen Alltag unmöglich machen. Dann nämlich liegt der Gedanke nahe, „dass die Musik in einen Teil des Gehirns eingedrungen ist, ihn unterworfen hat und nun zwingt, fortgesetzt und autonom zu feuern“, so Sacks. Was für eine Horrorvorstellung!
Der deutsche Titel dieses höchst lesenswerten Buchs über Musik und das Gehirn lautet „Der einarmige Pianist“ und verweist damit auf eine seiner interessantesten Beobachtungen: Phantomfinger, die bei im Krieg verletzten Klaviervirtuosen wie Paul Wittgenstein dafür sorgten, dass sie zum Beispiel weiterhin Fingersätze für ihre Schüler mit beiden Händen ausprobieren konnten – die eine Hand in Aktion, die andere imaginiert. Das Bewusstsein ist da, doch die Muskeln fehlen.

Heute kann man mit modernen bildgebenden Verfahren besser erkennen, was sich im Gehirn so tut, wenn Musik im Spiel ist. Zum Beispiel, dass bei Profimusikern das Nervenbündel, das die beiden Hirnhälften miteinander verbindet, sichtbar dicker ist als bei Nicht-Musikern. Das klingt logisch, denn beim intensiven Musizieren müssen die beiden Gehirnhälften lernen, gut miteinander zu interagieren. Aber nicht nur unser Beruf nimmt Einfluss auf die Ausprägung unseres Gehirns, sondern auch unsere alltägliche Klangkulisse spielt dafür eine entscheidende Rolle, meint Sacks. Die Klingeltöne von Handys, aber auch die Melodien in Werbung und TV-Serien sind ja gerade dafür konzipiert, sich als leicht wiedererkennbare Jingles im Gehirn festzukrallen wie Angelhaken. Wer viel von solchen Melodien umschwirrt wird, in dessen Gehirn richtet sich auch schneller mal ein ungebetener Hirnwurm ein, so Sacks.

Das Gehirn hat aber noch ganz andere Kaliber auf Lager, in Bezug auf Musik merkwürdige Dinge anzustellen: Da gibt es etwa unerklärliche Halluzinationen von Musik, wie Sacks am Beispiel der 70-jährigen Sheryl C. erläutert, die zunächst von eingebildetem Lärm und später ausgerechnet von halluzinierten Klängen aus „The Sound of Music“ und einem Spiritual in ohrenbetäubender Lautstärke gequält wurde. Getoppt wird dieses Krankheitsbild in negativer Hinsicht vielleicht nur noch von Epilepsien und Krampfanfällen, die durch Musik ausgelöst werden. Für den 45-jährigen Jon S. etwa war eine (eingebildete) schöne, melancholische Geigenmelodie der trügerische Vorbote zu einem heftigen Krampfanfall, der ihn ins Krankenhaus beförderte.

Solche drastischen Fehlzündungen der Musik, die Sacks in seinem Buch anschaulich darstellt und aus neurologischer Perspektive kommentiert, sind zum Glück sehr selten. Das absolute Gehör 4 dagegen als oft nützliche, bei verstimmten Instrumenten aber durchaus leidvolle Beziehung zwischen Gehirn und Klang ist weit verbreitet. Diese Gabe sei erlernbar, führt Sacks dazu aus, und nicht etwa angeboren, wie viele denken. Anders könnte man nicht erklären, dass 60 Prozent aller blinden Musiker ein absolutes Gehör haben, unter den sehenden Musikern sind es aber nur 10 Prozent. Das Gehirn ist schlau, es passt sich an die Notwendigkeiten des Lebens an.

  1. Mozart, Beethoven und Jimi Hendrix, sie konnten Töne ohne einen Bezugston betiteln. Das ist oft angeboren, kann aber auch mühsam erlernt werden. Da lauern die Neider im irdischen Musikolymp, aber man kann sich ein 08/15-Gehör auch gut reden. Ein absolutes Gehör, den 15-stündigen „Ring“ von Wagner und das Ganze einen Ticken höher: Aua! (CW)

Entspannungs- und Schmerzwundermittel

Vieles in diesem unendlich weiten Feld der Wirkung von Musik ist zwar kulturell erklärbar, etwa die Vorliebe für bestimmte Musikstile in bestimmten Kulturen. Doch erwiesen ist auch, dass einige Rhythmen und Intervalle ganz natürlich und damit ohne kulturellen Filter auf den Menschen wirken und zwar direkt auf sein Nervensystem. Das kann sehr nützlich sein, etwa wenn Musik zur Entspannung eingesetzt wird bis hin zur musikinduzierten Trance, oder um Musik als Schmerzmittelersatz zu verwenden. Studien zeigen, dass das Hören einer individuell angepassten Musik vor einer Operation die Dosis an Schmerzmedikamenten für den Patienten erheblich einschränken kann.

Das Gehirn feuert also nicht nur in feindlicher Absicht, die Musik kann in ihm natürlich auch Gutes bewirken, wie Sacks in seinem Buch ebenso erzählt: Deutlich öfter als destruktiv wirkt Musik konstruktiv, wohltuend und heilend – und auch das dank oft unerklärlicher Zusammenhänge mit der körperlichen Bewegung, mit Emotionen und dem Gedächtnis. Mit Hilfe einer Musiktherapie können Klänge daher helfen bei Gedächtnisverlust, bei der Parkinson-Krankheit oder dem Tourette-Syndrom.
Das Zusammenspiel von Synapsen, Klängen, Emotionen und Motorik: Für die Wissenschaft ist und bleibt vieles darin ein Mysterium. Genauso wie die Musik selbst in ihrer ungreifbaren Direktheit. Einige von Sacksʼ anschaulichen Fallbeispielen haben im Übrigen ein künstlerisches Eigenleben entwickelt. Der Komponist Michael Nyman etwa widmete Sacksʼ „Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselt“ 1986 eine Kammeroper. Ein Gehirnschaden als Inspirationsquelle? Verrückt!



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