Von Jesper Klein, 29.08.2019

Spieglein, Spieglein

Von Guillaume de Machaut über Mozart bis hin zu Alban Berg – Symmetrie begegnet uns überall in der Musik, sie faszinierte auch Leonard Bernstein. Die niusic-Playlist

In der Natur wie in der Kunst begegnet uns Symmetrie an allen Ecken und Enden. Lebewesen haben symmetrische Körper, der Mensch bevorzugt symmetrische Gesichter. Kurzum: Wir lieben die Symmetrie. Wen wundert es da, dass sie auch in der Klassik eine Rolle spielt?

Eines der frühesten und zugleich faszinierendsten Beispiele für musikalische Symmetrie ist Guillaume de Machauts Rondeau 274 „Ma fin est mon commencement“ aus dem 14. Jahrhundert, das die Playlist eröffnet (in einer zweisprachigen Version von New York Polyphony). Es trägt die Symmetrie sogar im Titel. Mein Ende ist mein Anfang heißt es, das kann man wörtlich nehmen. Das Stück ist in der Mitte gespiegelt, das Ende gleicht tatsächlich dem Anfang. Es ist nur eines von zahlreichen Beispielen für musikalische Palindrome, also Stücke, die man vorwärts wie rückwärts lesen kann.

  1. Achtung, Verwechslungsgefahr! Ein Rondeau ist nicht das Gleiche wie ein Rondo, das man aus der Klassik und als Sinfoniesatz kennt. Zumindest haben sie aber gemeinsam, dass Teile wiederholt werden. Beim Rondeau handelt es sich um eine Liedform des frz. Spätmittelalters, die aus A- und B-Teilen besteht. Diese kehren in einer bestimmten Reihenfolge wieder. (MR)



Jahrhunderte später ist diese Spielerei für Komponisten noch immer reizvoll: Das Allegro misterioso aus Alban Bergs Lyrischer Suite für Streichquartett 117 präsentiert von vorne wie von hinten betrachtet ebenfalls dasselbe musikalische Material. Auch Anton Weberns Variationen für Klavier op. 27 stecken voller symmetrischer Prinzipien, über die man ganze Aufsätze lesen kann. Der zweite Satz etwa gruppiert sein Tonmaterial symmetrisch um das eingestrichene a. Besonders schön: In Luciano Berios „Rounds“ für Cembalo oder Klavier soll der oder die Ausführende die Partitur gar um 180 Grad wenden.

  1. Sitzen vier Musiker zusammen und spielen … nein, nicht Karten, sondern ein Quartett. Die kleine Form ist flexibel und klingt trotzdem ausgewogen. Vor allem das Streichquartett gilt unter Komponisten als Königsdisziplin. Viele nutzten sie als Experimentierwerkstatt, in der sie bahnbrechende Ideen im Kleinen ausprobieren konnten. (AJ)

Die Musik läuft wie das Krustentier vermeintlich rückwärts.

Dass Mathematik und Musik zusammengehören, wusste bereits Pythagoras, der mithilfe des Monochords die Intervallverhältnisse untersuchte und somit musikalische Grundlagenforschung betrieb. Wer einmal in die Welt mathematisch konstruierter Musik eintaucht, kommt um die Fuge 47 nicht herum. Hier wird gespiegelt, was das Zeug hält. Ob nun als Inversion, die Töne werden an der horizontalen Achse gespiegelt, oder als Krebs 63 , dem Spiegeln an der vertikalen Achse. Die Musik läuft wie das Krustentier vermeintlich rückwärts. Beispielhaft stehen hierfür die beiden Spiegelfugen aus Johann Sebastian Bachs „Kunst der Fuge“, gespielt von Grigory Sokolov. Jahrhunderte später fanden diese Konstruktionsprinzipien den Weg auf die Bühne. Das Zwischenspiel im zweiten Akt von Alban Bergs Oper „Lulu“ ist spiegelsymmetrisch aufgebaut (hier aus der Orchestersuite mit Barbara Hannigan). Und in Paul Hindemiths Sketch mit Musik „Hin und zurück“ läuft ab der Mitte des Stück sogar die gesamte Handlung rückwärts.

  1. Was für eine barocke Rollenverteilung! Der Dux schreitet ins Stück, er übernimmt die Führung, bis der Comes sein Thema aufnimmt und sich mit der vorgestellten Melodie unter ihn schichtet, während der Dux fortfährt. Beide können nicht ohne einander und nähren sich vom anderen. (CW)

  2. Halt, Stopp! Umdrehen und rückwärts spielen! Ein Krebs oder Krebsgang meint das Rückwärtsspielen einer Notenpassage und kann häufig in Fugen oder in einem Kanon entdeckt werden. Werden die Intervalle dann noch umgekehrt, heißt das Krebsumkehrung. Fälschlicherweise behauptete man, dass die Meerestiere sich nur rückwärts bewegten. (CW)

Symmetrie als Albtraum

Während uns Symmetrien im Bild meist sofort ins Auge fallen und ein Lächeln auf die Lippen zaubern, sind sie in einer zeitlich ablaufenden Kunst wie der Musik mehr Konstruktions- als Hörprinzipien. Über die Spiegelachse hört man allzu leicht hinweg. Dass der Witz-und-Humor-Spezialist Joseph Haydn, der sein Publikum gern an der Nase herumführte, dieses Spiel nicht ausließ, wundert kaum. Menuett 65 und Trio seiner 47. Sinfonie entwarf Haydn als musikalisches Palindrom.

Doch was wäre die Ordnung ohne die Unordnung! Wie langweilig Symmetrie sein kann, zeigt der brillante Musikvermittler Leonard Bernstein in einer seiner berühmt gewordenen Harvard-Vorlesungen „The Unanswered Question“. Der erste Satz aus Wolfgang Amadeus Mozarts bestens bekannter g-Moll-Sinfonie wird in vollkommener Symmetrie nämlich, wie Bernstein ab Minute 3:30 demonstriert, zum reinen Albtraum.

  1. Wagen wir ein Tänzchen. Man benötigt drei Schläge pro Takt, Symmetrie und passendes Schuhwerk. Nachdem die Musik anmutig vorgestellt wurde, schiebt sich ein Zwischenteil ein, bevor der erste Teil wiederkehrt. Kurzum: Ein Menuett ist meist in einer dreiteiligen Liedform komponiert [a - b - a']. (CW)



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