Jeder hat ja so seine Schrullen. Die einen hören nur Berlioz, die anderen nur Mozart, wieder andere sammeln Gesamteinspielungen, reisen den Klassiksternchen hinterher oder tüfteln in ihrer Kellerwerkstatt an skurrilen Musikinstrumenten. Um gar nicht erst an die Technik-Freaks zu denken! Mit den historischen Plattenspielern, Kassettenrekordern oder High-Tech-Surround-Sound-Systemen. Da wird die Vorliebe schnell zum Fanatismus.
Meine Macken sind auch nicht gerade ohne. Ich liebe es zum Beispiel, immer wieder das Gleiche zu hören. Wochenlang ein und dieselbe Oper, Sinfonie, oder nur Ausschnitte eines größeren Werks. Das kann einen verrückt machen. Aber es ist so spannend! Immer neue Details zu entdecken, jeden Einsatz, jede Farbe, die Musik so lange zu hören, bis man sie auch von selbst in sich klingen lassen kann.
Manchmal mache ich ein Schiebepuzzle daraus. Ich bringe Stücke, die ich gerade sehr mag, in verschiedene Reihenfolgen. Einen höheren Sinn hat das nicht. Höchstens einen hörbaren, wenn vielleicht auch nur für mich. Ich finde es faszinierend, wie sich bestimmte Musiken zueinander verhalten, wie ein und dieselbe Aufnahme völlig unterschiedlich klingen kann.
Das alles geht natürlich nur mit richtig guten Aufnahmen. Wie zum Beispiel den Vivaldi-Einspielungen des Ensemble Matheus unter Jean-Christophe Spinosi. Dieses Orchester spielt so fein, so detailverliebt – und dabei so echt! Historische Aufführungspraxis 122 ohne Dogma. Zu Beginn meiner Playlist also die kleine Allegro-Introduzione der Oper „La fida ninfa“, schön ruppig, mit Knalleffekten. Und dann singt Philippe Jaroussky. Vielmehr schwebt er, mit seiner überirdischen Counter-Stimme 36 , über trostlos-trockene Achtelnoten. „Vedrò con mio diletto“, die eine berühmte Arie aus der Oper „Giustino“, die im Ganzen fast nie aufgeführt wird. Der erste Satz aus Anton Weberns Konzert für neun Instrumente Opus 24 steht dahinter wie ein Fragezeichen. Webern konzentriert die Musik aufs Äußerste, sagt zugleich alles und nichts.
Eine humane Weiterentwicklung des Kastraten. Wenn ein guter Countertenor singt, kann man seine Stimme für die einer Frau halten. Aber halt: Macht nicht das männliche Grundtimbre erst einen glanzvollen Counter und seinen ganzen Reiz aus? Darüber kann man streiten. Letztendlich ist das aber Geschmackssache. (MH) ↩
Darf man Bach auf dem Klavier spielen, obwohl es das Instrument im Barock noch nicht gab? Geht Haydn nur bei Kerzenschein? Der Streit um eine historisch korrekte Aufführungsweise oder -praxis begann schon bei Mendelssohn-Bartholdy, und noch heute wird geforscht, probiert und diskutiert, wie man auf historischen Instrumenten oder zumindest historisch informiert spielt. (AJ) ↩
Und dann? Einer, der auch nie weiter wusste (man denke an die legendäre Generalpause der C-Dur-Sinfonie), war ja Franz Schubert. Wie so einiges andere ist auch seine zehnte Sinfonie in D-Dur nur in Fragmenten erhalten, Luciano Berio hat sie zusammengefügt, orchestriert und die Lücken gefüllt. „Rendering“ ist der Titel, ein Begriff aus dem Grafik- und Videodesign. Für mich vielmehr eine meisterhafte Restaurationsarbeit, die Berio regelrecht zum Leben erweckt: Bruchstücke driften auseinander, verselbstständigen sich, werden zu einem Materialchaos, aus dem sich die Fragmente der Schubert-Sinfonie formen wie Planeten im Sternennebel.
Im „Offertory” aus Bernsteins „Mass” geraten die Dinge in eine herrliche Schieflage. Charles Ives lässt mit „The Gong On The Hook and Ladder“ dann eine aus dem Takt gebrachte Feuerwehrkapelle auf die Welt los, komponiert ein großes Chaos mit verzerrten Zitaten. Und in Bernd Alois Zimmermanns „Photoptosis“ gibt es gleich noch mehr zu entdecken, zum Beispiel Stellen aus Beethovens neunter Sinfonie, Wagners „Parsifal” oder Tschaikowskis „Tanz der Zuckerfee”. Ein dunkles Klangflächenspektakel, zu dem sich Zimmermann von Yves Kleins monochrom-blauen Wandflächen im Musiktheater im Revier Gelsenkirchen inspirieren ließ.
Die „Temporal Variations“ für Oboe und Klavier von Benjamin Britten stoßen danach die Tür zur seriellen Musik auf, mit ihrem Konzept der sich selbst entwickelnden Variation. Sie sind leider noch immer kaum bekannt, ich kenne sie nur, weil ich selbst Oboe spiele und Britten immer geliebt habe. François Leleux spielt in dieser Aufnahme so wunderschön und beeindruckend wie immer – wer es kantiger mag, kann die Einspielung von Heinz Holliger und András Schiff suchen.
Das Chorstück „Lux Aeterna“ für sechzehn Stimmen von György Ligeti verschmilzt mikrotonale Flächen. Es ist eines der anspruchsvollsten Stücke für Chorsänger:innen und auch für den Hörer nicht ohne. Diese Überlagerungen werden so intensiv, dass sie beinahe die Ohren blenden. Für meine Lieblingsepoche, den Impressionismus, habe ich noch Claude Debussys „Fêtes“ aus seinen „Trois nocturnes“ ausgesucht, ein Stück mit kühnen Tanzrythmen und bunten Lichteffekten. Zum Schluss der erste Satz aus meinem liebsten Kammermusik-Stück 120 , weil er einfach unglaublich viel Spaß macht: dem Trio pour hautbois, basson et piano von Francis Poulenc. Viel Spaß in der Dauerschleife!
Ursprünglich wurde sie tatsächlich in Kammern gespielt, nämlich in den Privaträumen von Fürsten und Königen. Deshalb spielen in Kammermusik-Werken nur wenige Musiker, zum Beispiel als Streichquartett, Bläseroktett o.ä., zusammen. Bürger des 19. Jahrhunderts entwickelten aus der höfischen Elitekunst ihre Hausmusik, wie z.B. die Schubertiaden, die im kleinsten Kreis vor ausgewähltem Publikum stattfanden. (AJ) ↩
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