Junge Klassik-Stars und -Sternchen bekommen von ihren Agenten gern gesagt, dass sie eine „Story“ brauchen, um sich auf dem Markt zu positionieren. Denn so funktionieren wir Menschen: Wir wollen Geschichten. So funktioniert auch Musik-Journalismus, der etwas Greifbares, Erzählbares braucht, um sich nicht in der Abstraktion der Musikbeschreibung zu verlieren. Und vor allem: So funktioniert Marketing. Wer ein individuelles „Markenzeichen“ hat, der wird schneller im Gedächtnis verankert. Bei der nächsten Neuerscheinung dieses Musikers greift man dann vielleicht schneller zu oder holt sich eher mal Tickets, wenn ein Konzert in der Nähe stattfindet. Denn von dem hat man doch schon mal gehört ...
Das hat natürlich nicht nur positive Seiten. Denn oft werden Künstler dadurch auch auf einen bemerkenswerten Charakterzug, auf ihre „Story“ reduziert. Yuja Wang? Ja, das ist doch die Chinesin, die immer in sexy Minikleidern spielt und sogar mit High Heels die Klavierpedale treten kann. Patricia Kopatchinskaja? Ist das nicht dieser Wildfang, der gern barfuß auf der Bühne steht? Gabriela Montero – klar, das ist die Pianistin, die auch auf die politischen Probleme in ihrem Heimatland Venezuela aufmerksam machen will!
Was ist Authentizität in der Welt des Marketings?
Ein solches „Image“ aufzubauen und vielleicht sogar bewusst zu pflegen, ist natürlich vollkommen in Ordnung, solange es einigermaßen authentisch ist. Oft genug können die Künstler das ja auch gar nicht beeinflussen. Und wenn durch die mediale Aufmerksamkeit eine außermusikalische Mission eines Musikers transportiert wird: umso besser. Denn natürlich sollten Kreative ihre Bekanntheit nutzen können, um auch sozial oder politisch etwas zu bewirken. Dann gibt es da noch das andere Extrem: Musiker, die sich der medialen Vereinnahmung entziehen, die weder Facebook noch Twitter pflegen und zu Insta-Stories, Vlogs oder Hashtags so viel Bezug haben wie zu David Garret. Ein paar musikalische Altmeister gehören in diese Kategorie, die sich auf Facebook-Posts nicht verlinken lassen, weil sie schlichtweg keinen Account besitzen. Aus der Distanz ist es vielleicht schwieriger, ein Gefühl für solche Künstler und ihre Persönlichkeiten zu entwickeln. Aber wenn man sie auf der Bühne erlebt, spricht ihre Musik für sich, dann erlebt man sie in ihrem Element, und das ist sicherlich tausend Mal aussagekräftiger als jeder Twitter-Post. Konzerte sind für solche Hardcore-Offliner Marketing für die Sache, nicht für den Interpreten.
Doch beides hat seine Berechtigung, denn beides findet seine Anhänger – gerade in der Welt der Klassik, in deren Publikum heute Leute mit Highspeed-Smartphone in der Tasche ebenso wie (meist ältere) Zuhörer sitzen, die nur einen Festnetz-Anschluss haben. Und Marketing für den Interpreten führt ja im besten Fall auch zum Marketing für die Sache, nämlich die Musik!
Aber in Zeiten, die ohne Social Media für viele undenkbar sind und in denen diese Netzwerke längst für Marketing-Zwecke eingesetzt werden, führt die Bespielung von Facebook, Twitter und Instagram auch zu einer enormen Verkünstlichung des vermeintlich „Authentischen“. Kaum ein bekannter Klassik-Star pflegt seine Accounts noch selbst, professionelle PR-Agenturen füttern die Follower mit gezielt dosierten Appetizern auf die nächste CD, mit Glamour-Shots hinter der Bühne und mit Lächeln, Lächeln, Lächeln. Auf Social Media verwischen schon lange die Grenzen zwischen privat und professionell, zwischen authentischen Impressionen aus dem Leben und gezieltem Marketing. Die meisten von uns verwenden ja Facebook als Möglichkeit, mit Freunden und Bekannten in Kontakt zu bleiben, aber auch als Informationsquelle für interessante Veranstaltungen. Im Künstler-Account kommt all das zusammen: Im Normalfall ist er ein Zwitter-Wesen, das sich zwar authentisch gibt, aber meist nur die glänzende Oberfläche eines sicher oft nicht einfachen Lebens abbildet. Da ist es schon fast rührend, mit welcher Naivität manche Künstler wie Anna Netrebko Instagram anscheinend selbst befüllen: Aktuell sieht man dort Netrebkos grinsenden Sohnemann, verwackelte Reise-Bilder – und huch, wie kommt sie denn im Schutzanzug und mit Mundschutz auf einen Bauernhof?
Den Vogel abgeschossen in Sachen „Story“ hat aber kürzlich Simone Kermes mit ihrem Promo-Video zu ihrer neuen Händel-CD. „Händel ist himmlisch. Händel ist genial. Händel ist wunderschön. Händel ist meine Liebe“, haucht sie da im Vorspann ins Mikrofon. Im 2 1/2 -Minüter wird sie danach in einem Berliner Wohnzimmer gezeigt, mit pinken Lippen, Madonna-Locken und Silber-Creolen. Sie setzt sich an einen Schreibtisch und verfasst – mit Feder und Tinte selbstverständlich! – einen Brief an „ihren Händel“. Im Interview, das mit der Brief-Szene verblendet wird, gesteht sie, durch die neue CD sei sie in Händel „noch viel mehr verliebt. Ich glaube, ich bin zur Zeit auch mit ihm verheiratet“. Im Hintergrund dudelt die Musik der neuen CD, während Kermes in Zeitlupe den Flügel öffnet und gedankenverloren durch die Noten blättert. Und dabei sinniert: Händel sei „dort oben und beschützt mich“, bevor sie zum Schluss ihres Briefes kommt: „Ich liebe Dich von Herzen und umarme Dich mit meiner ganzen Seele. Deine Simone“.
Man könnte dieses Video euphemistisch einfach „trashig“ nennen – aber in diesem Fall hat es wohl einfach an Budget und einer wirklich zündenden Idee gemangelt, wie man dieses Album promoten könnte. Wenn beides zusammen kommt, sollte man das mediale Storytelling besser einfach mal sein lassen. Kermes ist eine geniale und bekanntermaßen ziemlich ausgeflippte Sängerin, die viel zu erzählen hat. Aber manche Assoziationen sollte man dem Publikum dann doch lieber selbst überlassen …
Screenshot von Anna Netrebkos Instagram-Account © Anna Vogt