Es sind Urgewalten, die Kirill Petrenko, dieser kleine, drahtige Mann, zu entfesseln vermag. Es passiert einfach jedes Mal, wenn er sich in seiner typischen Art, so pfeilgerade und maximal gespannt vor ein Orchester stellt und die nächsten 45 oder 60 oder 90 Minuten zu vergessen scheint, dass er auch nur ein Mensch in einem sterblichen Körper ist, der irgendwann mal eine Pause bräuchte. Nur irgendwie braucht Petrenko keine Pause. Bei seinem Konzert mit dem Bayerischen Staatsorchester im März 2018 in der Elbphilharmonie verließ er nach für die Zuhörerin kräftezehrenden, explosiv-intensiven eineinhalb Stunden das Podium, als sei nichts gewesen. Genauso vor wenigen Monaten nach dem „Sacre du printemps“ mit dem tobenden Bundesjugendorchester.
Es muss so sein: Petrenko überträgt eine enorme Energie auf die Musiker:innen vor ihm und ja, auch die Berliner, das „beste Orchester der Welt“ kann unter ihm spielen als gäbe es kein Morgen – berauscht von der eigenen Kraft, wie ein dreiköpfiger Zerberus, der von der Leine gelassen wird. Passiert ist das am 22. März 2017, dem ersten Konzert Petrenkos mit dem Orchester nach seiner Wahl zu ihrem Chefdirigenten.
Leonard Bernstein und Simon Rattle hatten das Orchester in der Vergangenheit zwar nicht unbedingt an die Leine gelegt. Doch wirkte es beim Konzert, und so wirkt es auch beim Hören der CD, als spielte dort ein anderes Ensemble: so reaktionsschnell, wendig und kompromisslos, als jagten sie wie Raubtiere – welches unsichtbare, begehrenswerte Etwas sie auch immer so magisch anzog, so fiebernd antrieb. Der Wille vielleicht, dem neuen Chef zu zeigen, dass sie Bock auf ihn haben. Vielleicht aber auch das Gefühl, von ihm in dieser „Pathétique“ auf die genau richtige Weise angefasst zu werden.
Sicherlich hat die reine CD-Aufnahme den Nachteil, dass man das Konzertgeschehen nicht live erlebt, dass man Petrenkos magierhaften, konzentrierten Bewegungen nicht Millimeter für Millimeter folgen kann. Doch damit hat sie den riesengroßen Vorteil, dass man sich allein aufs Hören besinnt. Auf die Musik, wie sie jenseits aller optischen und situativen Gegebenheiten geklungen hat. Ohne die Spannung in der Luft, ohne den platzen wollenden Knäuel an Erwartungen, der mit jeder Fermate und jedem aufhorchenden Menschen im Saal größer wurde.
Da ist vor allem diese enorme Präzision, die sich aus jeder Betonung, jedem Ausatmen und Crescendo heraus offenbart, die fünffache Pianissimi möglich macht und eine irre Durchhörbarkeit auf jeder instrumentalen und rhythmischen Ebene. Das ist keine Präzision um der Präzision Willen, mit gespitzten Fingern und gerümpfter Nase, sondern wohl eher vergleichbar mit derjenigen eines Orchideenzüchters – eine Präzision, die im ständigen Dialog, aus dem nie aufhörenden Agieren und Reagieren heraus entsteht, die Leben schaffen will, das nur unter ganz bestimmten Bedingungen am besten blühen kann.
Und Petrenko schafft dieses Leben. Da steht am Ende des ersten Satzes der Blechchoral über den fallenden Pizzicati-Linien so ruhig wie der Mond über einem kleinen See, und man vergisst fast, dass man gerade Musik hört. Aus der Gleichmütigkeit der Partitur holt Petrenko zusammen mit seinen Instrumentalisten die Musik in eine Unmittelbarkeit, vor der man sich kaum schützen kann. Selbst die sentimentalen Streicherkantilenen und wehmütigen Hach-Seufzer des beginnenden vierten Satzes werden nicht pathetisch, sondern nehmen sich eher ein bisschen zurück. Und wenn Tschaikowski „Allegro vivo“, „marcatissimo“ und mehrfach „sff“ in die Partitur schreibt, bis hin zum vierfachen Forte im tiefen Blech und martialische Triolenpeitschen in Hörner und Trompeten, dann gehen hier wirklich kurz die Höllentore auf. Zerberus ist von der Leine.
In der Konsequenz versteht sich Petrenko wohl einfach nicht als Maestro-Genius, ohne den diese Musik nie klingen würde. Eigentlich ist es anders herum: Er hält ihr die Tür auf und tritt nach ihr ein. So kurz, wie er den Blickkontakt mit dem Publikum hält, so schnell, wie er vom Pult wieder verschwunden ist, mit zügigen Schritten und immer gesenktem Blick, könnte man meinen, es sei ihm fast unangenehm, dort vorne so exaltiert auf dem Podest zu stehen. Aber er ist da genau richtig. Auf dass er in Zukunft mehr und mehr und mehr mit den hungrigen Berlinern solche Musik macht. Und dass es davon viele, viele Aufnahmen geben wird.