Die Musikhochschule Lübeck hat Glück gehabt. Die vier Räume einer ehemaligen Privatschule, die bei ihrer Gründung 1911 angemietet wurden, lagen genau am richtigen Fleck, am Rand der historischen Altstadt, zwischen gotischen Backsteinhäusern mit Stufengiebeln, direkt am Ufer der Trave. Mittlerweile ist die Hochschule zu einem Konglomerat aus 22 Kaufmannshäusern zusammengewachsen und fügt sich so gut ins Stadtbild, dass sie von außen kaum auffällt. Ihr Inneres erinnert ein wenig an die Zauberschule Hogwarts. Unzählige Treppen und verwinkelte Gänge verbinden die verschiedenen Häuschen und mehrere Innenhöfe, die wie kleine Inseln zum Verweilen einladen. Genauso wie die lichtdurchflutete Mensa direkt unter einer durchlaufenden Empore. Seit 1992 veranstaltet die Musikhochschule Lübeck jedes Jahr ihr Brahms-Festival, anfangs orientierten sich die Themen eher an geografischen Räumen wie Ungarn, Norddeutschland, Wien oder Böhmen und Mähren. In den letzten Jahren haben sie eine zunehmende gesellschaftspolitische Färbung angenommen („Verwandlungen“, „Heimat“, „Fremde“). Das Motto 2019: „Abgründe – Lichtblicke“.
Rico Gubler, Präsident der MHL
Das Festival wird von Lehrenden und Studierenden gemeinsam geplant und ausgeführt. „Wir sind kein Intendantenfestival, eher eine große Kammermusikgruppe, die auf eine Entscheidung zutreibt“, sagt Rico Gubler, Präsident der MHL. „Hier gibt es wirklich ein Ringen um das Programm, so wie es an einer Hochschule eben üblich ist.“ Vieles kann die Hochschule mit Lehrinhalten aus dem Alltag verknüpfen, denn die Studierenden sollen möglichst gründlich und lange an den Werken arbeiten. Das Sinfoniekonzert fußt auf dem Orchesterprojekt des Sommersemesters, die Streichquartett-Reihe auf dem einjährigen Kammermusikcampus. Das Besondere des Festivals ist die fachübergreifende Arbeit, es stehen nicht nur Dozierende und Studenten gemeinsam auf einer Bühne, sondern die künstlerischen Bereiche arbeiten eng mit Musikwissenschaft, Musiktheorie und Musikpädagogik zusammen.
Studium & Festival
In so entstandenen Education-Workshops setzen sich Schülerinnen und Schüler mit fremden Musikkulturen wie der brasilianischen Samba oder der balinesischen Gamelanmusik auseinander. Unter massivdunklem Holzgebälk hämmern zahllose Schlegel unisono auf die Bronzeplatten der Musikinstrumente, bemühen sich um den richtigen Takt und das Abdämpfen des Klangs. Dieter Mack, Professor für Komposition, erklärt Eigenschaften der Gamelanmusik, Studierende spielen vor, Schüler ahmen nach.
Der Grundstein des Brahms-Festivals liegt vor den Hochschulwänden, außerhalb der Altstadt, dort, wohin früher die Reichen durch das prächtige Burgtor tagsüber dem Stadttrubel entflohen. Die Villa Brahms ist ein klassizistisches Landhaus, umgeben von einem riesigen Garten, der bis zur Trave reicht.
Johannes Brahms hat hier allerdings nie gelebt. Als 1991 das Land Schleswig-Holstein einen bedeutenden Teil des Brahms-Nachlasses der Hochschule schenkte, entstand hier das Brahms-Institut, das neben der Forschung auch das künstlerische Leben bereichern sollte und deshalb das Festival gründete. „Selbstverständlich wollen wir nach außen hin präsent sein, wollen zeigen, wie wichtig eine Musikhochschule ist“, sagt Wolfgang Sandberger, Leiter des Brahms-Instituts und des Festivals. „Aber genauso wichtig ist uns der Blick nach innen, der Zusammenhalt, die Diskussionskultur.“ Theorie wird mit Praxis verknüpft, die Forschung des Brahms-Instituts wirkt in die Lehre hinein.
In Nachmittagskonzerten werden hier sämtliche Duo-Sonaten von Johannes Brahms aufgeführt, ein wahrgewordener Traum für Sandberger. Die Konzerte werden von Studierenden der Hochschule bestritten und von Promovierenden des Instituts moderiert. Noelia Balaguer und Petar Kostov eröffnen die Reihe mit der ersten Cellosonate. Man merkt ihnen die ungewohnte Auftrittssituation an, die Teilnahme am Brahms-Festival kommt einem Ritterschlag gleich. „Natürlich ist hier die Aufregung viel größer als bei einem Klassenvorspiel,“ erzählt Kostov, der erst im zweiten Semester an der Hochschule ist.
Dass das Brahms-Festival ein entscheidendes Sprungbrett sein kann, weiß das Esmé-Quartett nur zu gut. Letztes Jahr wurde es dort von einem Promoter entdeckt und für ein wichtiges Konzert akquiriert, dieses Jahr eröffnet es das Herzstück des Festivals, die Kammermusikreihe, in der alle Streichquartette von Franz Schubert aufgeführt werden.
Heime Müller, Professor für Violine und Kammermusik, hält sich bewusst im Hintergrund und verteilt lieber Sitzplatzreservierungen, als in der Anspielprobe Anweisungen zu geben. Für ihn ist es wichtig, dass die Studierenden während dieser Ausnahmezustandswoche Einblicke in das Festivalleben und die Abläufe bekommen und davon in ihrer späteren Laufbahn profitieren. Der Eintritt ist frei, der Saal proppenvoll, und das Esmé-Quartett wirkt höchst professionell. Wenige Minuten nachdem die vier Musikerinnen den verdienten Applaus entgegengenommen haben, steigen sie schon ins Taxi, am nächsten Tag spielen sie in Korea.
Da die MHL nicht an Einnahmen gebunden ist, hat das Brahms-Festival einen entscheidenden Vorteil: Es kann sich erlauben, vielleicht mehr als andere Musikfestivals, mutig zu sein, Neues zu wagen, zu scheitern. Diesen offenen Raum füllen in Lübeck vor allem Konzertformate: Metalklänge werden mit Musik der Nachkriegszeit kombiniert, ein fünfstündiges Werk von Morton Feldman endet bei Sonnenaufgang, und Dozenten der Popularmusik improvisieren eine Dreiviertelstunde über Textfetzen von Bert Brecht. Katharina Schwerk ist als Ehemalige zu dem Konzert gekommen und begeistert: „Die Dozenten sind noch bessere Lehrer, als man denkt. Sie machen genau das, was sie lehren.“ Auch diese Konzerte sind überraschend gut besucht, neben Studierenden und Lehrenden vor allem auch von Lübeckern oder Leuten aus der Umgebung.
Das Brahms-Festival ist damit Schaufenster, Experimentierlabor und Identitätsstiftung zugleich. Formatentwicklung und Managementerfahrungen sind genauso möglich wie Lehren und Lernen im gemeinsamen Musizieren. Dass dabei der Alltagsbetrieb fast komplett aufrecht erhalten werden kann, verblüfft zunächst, wirkt aber einleuchtend. In diesen verwinkelten Gängen, lauschigen Innenhöfen und der gemütlichen Mensa begreifen sich Dozierende und Studenten eben nicht nur auf der Bühne als Ensemble.
Kachel: © Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck
Brahms-Institut: © Dorfmüller und Kröger
Noelia und Petar; Innenhof: © Musikhochschule Lübeck
© Sophie Emilie Beha