Die Probe ist vorbei im fensterlosen Ferenc-Fricsay-Saal im Berliner rbb. Kurzes kollektives Klopfen als Zeichen des Danks, dann strömen die Musiker des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin nach allen Seiten auseinander. Die Energie im Raum, gerade noch schneidend und konzentriert, ebbt allmählich ab. Robin Ticciati bahnt sich seinen Weg Richtung Dirigentenzimmer, plaudert noch kurz mit einer Geigerin, umarmt den Solocellisten, der sich mit Erkältung wegdrehen will. Nebenbei klärt er noch organisatorische Details mit dem Management, macht Besprechungstermine aus. Ein souveräner Multitasker. Mit seiner schlichten schwarzen Kleidung und seiner unaufgeregten Art wirkt er fast ein bisschen unscheinbar, solange er nicht mit einem spricht. Doch wenn Robin Ticciati sich einem zuwendet, weiß man, warum er eine Hundertschaft von Profimusikern nicht nur leiten, sondern auch motivieren und mitreißen kann. Er fokussierte einen mit offenem, ehrlich interessiertem Blick, sein Gesicht glüht vor Energie und Begeisterung, als wir uns im Dirigentenzimmer auf abgewetzten Ledermöbeln über den vielleicht wichtigsten Grundpfeiler seiner Arbeit unterhalten: die Beziehung zwischen Chefdirigent und Orchester. Nach wenigen Minuten legt sich Ticciati ganz selbstverständlich auf die Couch, den Rücken entspannen. Autorität und Charisma haben bei ihm nichts zu tun mit Distanz, Härte oder dem Wahren eines Scheins. Sondern mit Authentizität, mit Gelassenheit und einem unfassbar natürlichen Selbstvertrauen.
niusic: Es ist Ihre zweite Saison beim DSO. Kennen Sie schon alle Namen der Orchestermitglieder?
Ticciati: Normalerweise bin ich, ehrlich gesagt, eigentlich ziemlich schlecht mit Namen, aber natürlich erinnere ich mich beim DSO an die Orchestermitglieder und ihre Namen, denn sie sind zu meiner Familie geworden. Ich lerne Namen automatisch dann, wenn ich das Gefühl habe, dass ich den Menschen dahinter kenne. Und es macht einen großen Unterschied, ob man jemanden in der Probe mit „2. Flöte“ oder mit „Frauke“ anspricht.
niusic: Ist das DSO für Sie also eher eine Gruppe von Individuen als ein homogener Klangkörper?
Ticciati: Ganz klar, es sind Individuen, die mit Respekt behandelt werden müssen und die alle Künstler sind. Aber sie kommen zusammen, um gemeinsam etwas zu schaffen, das größer ist als sie selbst, als wir alle.
niusic: Haben Sie eine klare Vision, wohin die Reise mit diesem Orchester geht, oder ist es eher ein gemeinsames Ausprobieren?
Ticciati: Es gibt gewisse Dinge, die ich mit diesem Orchester unbedingt erreichen möchte. Das betrifft vor allem die Art und Weise, wie wir gemeinsam Musik machen, und die Antwort auf die Frage, warum wir zusammen auf die Bühne gehen. Ich möchte die Musikerinnen und Musiker mehr und mehr motivieren, sich einzubringen und teilzuhaben. Jeder einzelne soll so spielen, als ob es in dem Moment das Wichtigste in seinem Leben wäre. Das ist sehr intensiv! Ich habe also eine genaue Vorstellung davon, mit welcher Haltung wir in die Proben und Konzerte gehen. Aber ob wir Bruckners Neunte oder etwas anderes spielen, wohin wir touren, was wir aufnehmen … Das Alles ergibt sich organisch.
niusic: Gibt es manchmal Probleme, wenn Orchestermitglieder sich auf diese Art zu arbeiten nicht einlassen wollen?
Ticciati: Natürlich kommt es vor, dass die eine oder der andere, aus welchen Gründen auch immer, mal weniger motiviert ist, aber das ist im DSO nicht wirklich ein Problem. Ich bin noch ziemlich neu hier, und es gibt wechselseitig einen regelrechten Hunger nach dem gemeinsamen Musizieren. Die Frage ist eher, wie man mit künstlerischer Spannung, künstlerischen Auseinandersetzungen produktiv umgeht.
niusic: Ist Disziplin ein Thema, mit dem Sie zu kämpfen haben?
Ticciati: Das DSO möchte gepusht werden, eine Vision bekommen, erfolgreich sein. Aber das kann ein großes Sinfonieorchester nicht aus sich selbst heraus erreichen, es braucht dazu einen Dirigenten. Natürlich kommt es schon mal vor, dass das Orchester mit einer Sache, die ich mache, nicht hundertprozentig glücklich ist. Dann entstehen zunächst Spannungen. Aber die Antwort ist, einen offenen Dialog darüber zu führen. Ein Orchestermusiker hat ja jede Woche Proben, immer anderes Repertoire, immer wieder andere Dirigenten … Es ist wirklich eine Herausforderung, als Musiker nicht zu routiniert zu werden, idealistisch zu bleiben, die Liebe zur Musik zu erhalten. Man muss als Dirigent ein Bewusstsein, ein Verständnis dafür haben. Es ist ein großes Gefüge, in dem wir uns befinden, da spielt so vieles mit hinein. Die Arbeit eines Chefdirigenten kreist auch darum, wie es seinen Musikerinnen und Musikern geistig geht.
Robin Ticciati
niusic: Entwickeln sich auch Freundschaften mit den Musikern?
Ticciati: Ich muss die Musiker leiten, und indem ich meine Führungsrolle ernst nehme, kann ich zu ihnen im Alltag kein zu enges Verhältnis haben. Autorität funktioniert nur, wenn man mit allen gleichermaßen geradlinig und klar umgeht. Andererseits ist es für mich total wichtig, meine Musiker auch als Menschen wahrzunehmen, für sie da zu sein. Das ist eine Gratwanderung, eine sehr feine Balance.
niusic: Also erfordert Ihr Job als Chefdirigent ein bisschen Abstand zum Orchester?
Ticciati: Ich versuche, das nicht als „Distanz“ zu denken, kein Label drauf zu packen. Es ist eine sehr besondere Beziehung, in die man konstant Arbeit investieren muss, genauso wie bei einer tiefergehenden Freundschaft, auch da braucht es Arbeit. Es ist ein Gebäude, an dem man jeden Tag neu arbeiten muss.
niusic: Sympathie und Liebe reichen nicht aus?
Ticciati: Nein, manchmal muss man die Musiker zum Beispiel dazu bringen, dass sie feuriger oder disziplinierter spielen … interessant, dass ich für diese Wörter ins Deutsche wechsle (lacht).
Robin Ticciati: Britisches Wunderkraftwerk
niusic: Mussten Sie lernen, sich auch dem Orchester anzupassen?
Ticciati: Natürlich! Manchmal kann ich das, was ich mir vorstelle, nicht sofort erreichen – aber der Samen ist gesät, und im nächsten Monat oder im nächsten Jahr wird es dann vielleicht auf Anhieb klappen. Ich kann warten, es ist ein Prozess, nie ein Kompromiss.
niusic: Fühlt es sich sehr anders an, Chef- und nicht nur Gastdirigent zu sein?
Ticciati: Es ist unglaublich anders. Nicht, was das Proben angeht. Aber beim DSO liegt mir jede einzelne Person sehr am Herzen. Und es ist meine Verantwortung, für das Orchester zu kämpfen – auf jede Art und Weise, die mir möglich ist. Als Gastdirigent reist man an, dirigiert, hat dabei nur die musikalische Seite im Blick und verschwindet wieder. Aber zum Job eines Chefdirigenten gehört es, die Herausforderungen und mitunter Schwierigkeiten im Alltag zu sehen, sie auch offen zu thematisieren und sich insgesamt verantwortlich dafür zu fühlen.
niusic: Fühlen Sie sich auch verantwortlich, dass die Ticketverkäufe stimmen und die Rezensionen gut sind?
Ticciati: Mein Gott, auf jeden Fall! Für den Ticketverkauf mehr als für die Kritiken, die man nicht vorhersehen oder beeinflussen kann. Aber wenn der Saal leer wäre: Natürlich würde mir das Sorgen bereiten und ich müsste mir überlegen, wie wir das ändern können. Beim DSO ist das Managementteam sehr klein, aber sehr motiviert, wir ziehen alle gut an einem Strang.
Robin Ticciati
niusic: Wenn ich mir die Bandbreite an Persönlichkeiten der Dirigenten heute ansehe, habe ich den Eindruck, dass die Phase der dominanten Macht-Figuren zu Ende geht. Ist die Zeit reif für authentischere, „menschlichere“, auch verletzlichere Dirigenten?
Ticciati: Die „Diktatoren“ gibt es noch, aber selten. Für sie ist ein Orchester „nur“ das Werkzeug – und auf eine Art können hier fantastische Resultate entstehen. Aber Orchester sind heute technisch und musikalisch so gut, dass die Arbeit eines Dirigenten gar nicht mehr so darauf ausgerichtet ist, zu organisieren und anzusagen, wie etwas gespielt werden soll. Sondern vielmehr: die Musiker einzuladen, einer musikalischen Idee zu folgen, und zu inspirieren. Und dafür braucht man eine menschliche Verbindung. Als Chefdirigent muss man sich verletzbar fühlen dürfen vor seinem Orchester. Es darf wissen, dass Du manchmal nicht alle letztgültigen Antworten hast. Aber zugleich musst Du, damit das möglich ist, auch eine unglaubliche Autorität ausstrahlen und dem Orchester vermitteln: Ich weiß zu hundert Prozent, was ich tue, und ich werde Euch führen. Dieses Vertrauen muss da sein. Für einen Dirigenten ist diese Art auf jeden Fall schwieriger als die „Diktatoren-Version“ – aber die Belohnung ist umso größer. Denn das Ergebnis ist freier, individueller, und es kommt vielmehr von den Musikern selbst. Natürlich weiß ich, wie jeder Takt in meiner Vorstellung klingen soll. Aber zugleich höre ich auch zu, was vom Orchester zurückkommt. Und damit kann ich spielen, so entwickelt sich ein wunderschöner Dialog.
niusic: Hat Ihre Art des Musizierens manchmal, mit anderen Orchestern, nicht funktioniert?
Ticciati: Ja, natürlich. Es wäre verrückt, wenn meine Art mit jeder Gruppe funktionieren würde. Man muss geradezu dankbar sein, dass sie das nicht tut, denn was wäre sonst der Punkt daran? Es muss Momente geben, in denen Orchester sagen: Wir mögen das einfach nicht. Oder aber das Gegenteil: Das ist genau das, was wir wollen. Und als Dirigent muss man da durch. Am Anfang tut das mitunter weh und verletzt Dich. In meinen Zwanzigern gab es Zeiten, in denen ich mich ernsthaft fragte: Möchte ich das wirklich auf mich nehmen? Aber mit der Zeit kommt auch die Erfahrung, und ich habe ein Gespür dafür entwickelt, wie weit ich mich anderen öffnen darf, wie weit ich mich aber auch schützen muss.
niusic: Sehen Sie es als ein Zeichen des Vertrauens, dass das DSO Sie nach einem einzigen gemeinsamen Konzert als Chefdirigent haben wollte? Und andersherum: Dass Sie einen 5-Jahres-Vertrag akzeptiert haben?
Ticciati: Das ist ein großes Zeichen von beiden Seiten. Unsere Beziehung hat mit Vertrauen begonnen, und ich habe nie daran gezweifelt. Natürlich gab es in der Kennenlernphase manchmal ein hartes Stück Arbeit. Doch für mich zeigt sich der Respekt mir gegenüber auch darin: Sollte es in diesem Orchester Musikerinnen oder Musiker geben, die denken „Ticciati ist für mich nicht der Richtige“ – sie zeigen es nicht.
niusic: In den Publikationen im ersten Jahr waren Sie wahnsinnig präsent … Haben Sie sich damit wohl gefühlt?
Ticciati: Es gab zwei praktische Überlegungen dabei: Niemand in Berlin kannte mich, daher wollte ich mich vorstellen. Ich bin hier! Kommt zum Konzert! Im Rampenlicht zu stehen, omnipräsent zu sein, ist nicht unbedingt etwas, was ich besonders mag – aber ich will, dass mein Orchester Zuhörer hat. Und manchmal braucht es eben jemanden, um etwas zu verkaufen. Und das kann auch das Gesicht des Chefdirigenten sein. Klar könnte ich mich auch in meinem Elfenbeinturm verstecken, aber ich glaube, das wäre unfair. Ich darf mich nicht verstecken, wir sind alle zusammen unterwegs. Und im Konzert können die Leute hoffentlich erleben: Es geht um die Musik, nicht um mich.
© Kai Bienert