Von Hannah Schmidt, 23.04.2019

Schwanengesang

Notre-Dames Titularorganist Olivier Latry hat im Januar Bach aufgenommen – an dem Instrument, das bei dem Brand der Kathedrale im April wie durch ein Wunder verschont geblieben ist. Trotzdem wird es für mindestens fünf Jahre nicht zu hören sein, was die Aufnahme umso wertvoller macht.

Schon seit 30 Jahren, sagt Olivier Latry, also eigentlich seit er an der Pariser Kirche Notre-Dame Titularorganist wurde, wollte er an der dortigen Orgel Bach aufnehmen. Es ist eines dieser Meister-Instrumente von Aristide Cavaillé-Coll, mit mittlerweile 115 Registern, mehr als 8000 Pfeifen und seit den 70er-Jahren einer elektrischen Traktur, die Klangkombinationen erlaubt, von denen der visionäre Orgelbauer im vorletzten Jahrhundert wohl nie hätte träumen können. Es ist nicht leicht, auf diesem spätromantischen Riesen polyphone, vielschichtige und teilweise hochfiligrane barocke Musik zu spielen, das wusste auch Latry und beschloss: Wenn schon Bach in Notre-Dame, dann muss man es anders machen als auf einem Barockinstrument. Ganz anders.

Ende März erschien das Album dann, das er im Januar in der Kathedrale aufgenommen hatte, am 29.3.2019 luden sie es bei Spotify hoch – etwas mehr als zwei Wochen, bevor im Dachstuhl der Kathedrale ein verheerendes Feuer ausbrach und Teile des gotischen Gebäudes zerstörte, seinen Innenraum verwüstete und die kleinere Chororgel auf der Seitenempore auffraß. Latry erfuhr von der Katastrophe aus der Ferne, auf Konzertreise in Wien, und er betete, wie wohl alle anderen, die das Unglück verfolgten, dass nicht noch mehr passieren würde, dass der Brand die Schätze in der Kirche, dass er die große Orgel verschonen würde.

Die Aufnahmen sind das vorerst Letzte, was von der Orgel und ihrem Klang in Notre-Dame geblieben ist

Wie durch ein Wunder tat er das auch, nur wird das Instrument wohl für mindestens fünf Jahre nicht spielbar sein, zumindest so lange nicht, bis die enormen Vibrationen, die es auslöst, den dünn gewordenen Mauern nichts mehr anhaben können. Latrys Aufnahmen, berühmte und genauso auch kleinere Bach-Werke, Choräle, Toccaten, Fantasien, Fugen – sie sind das vorerst Letzte, was von der Orgel und ihrem Klang in dem revolutionären hellen, hohen, schlanken Raum geblieben ist. Aber nicht nur das ist ein Grund, für „Bach To The Future“ dankbar zu sein.

Olivier Latry an seiner Orgel

Selbst wenn nichts passiert wäre, wenn Notre-Dame wie immer still und groß auf der Île de la Cité stünde und täglich 30.000 Touristen in ihr ein- und ausgehen würden, selbst dann wären diese Aufnahmen ein wahrer Schatz. Latry, der seine Orgel seit nun 34 Jahren kennt, alle drei Wochen an ihr Messen spielt und des Nachts an ihr übt, weiß genau, was ihr steht, und zwar nicht nur, was ihr ganz okay steht, sondern was ihr irrsinnig gut steht. Als wär er mit ihr wie mit einer alten Dame in der eigenen Garderobe auf die Suche gegangen und hätte ihr im gemeinsamen, liebevollen Ritual nur die schönsten Kleider und Accessoires herausgesucht und sie so kombiniert, dass dem überwältigten Partygast die Kinnlade herunterfällt, wenn sie dann mit gemächlichen Schritten die breite Marmortreppe heruntergestiegen kommt – so, oder so ähnlich zumindest. Die Orgel zeigt sich in diesen Aufnahmen als prächtige, wilde Schönheit, die in Werken wie der Toccata und Fuge d-Moll oder großen Passacaglia und Fuge c-Moll in mehr als den erdenklichen Lichtern und Farben zu schillern beginnt.



Da ist dieser donnernde Bass, der nurmehr als mächtige Vibration im Fundament wahrzunehmen ist, die fülligen, warmen und wenn es sein muss scharfen Mixturen, die charakteristisch obertonreich-durchdringend singen, die feierlich überblasenden, schnarrenden und in der Tiefe grollenden Zungenregister wie verschiedene Trompeten, Bass-Oboe, Tuba magna, Bombarde, Basson und die horizontal aus der Orgel herausragenden Chamaden, dann die zarteren wie Clairon, Klarinette, Cromorne und so weiter, ganz zu schweigen von den silbrigen Schwebungen, den warmen Flöten, Aliquoten, Streichern, Cello, Nazard, Flageolet, Voix humaine – das ergibt eine solche Fülle an perfekt austarierten Klangmöglichkeiten, dass einem schwindelig werden kann.

Dem Raum immer perfekter angepasst

Jedes Register erzähle eine eigene einzigartige Geschichte, sagt Latry dazu, schließlich seien sowohl vor als auch nach Cavaillé-Coll etliche Orgelbauer an dem Instrument unterwegs gewesen und hätten ihre Ideen und Wünsche und Klangvorstellungen mit denen der Orgelbauer und Intonateure vor ihnen kombiniert. Das Instrument ist zwar von Cavaillé-Coll in den 1860er Jahren grundüberholt und weitestgehend neu gebaut worden, doch ist es trotz allem über viele Jahrhunderte gewachsen und dem Raum, in dem es steht, immer perfekter angepasst worden. Sieben Sekunden Nachhall – damit muss man erst einmal umgehen können als Instrument. Latry wählte also Werke aus, die unter diesen Konditionen aufgehen, und er transkribierte sie im wahrsten Wortsinn: genau für diese Konditionen, für diese Orgel in diesem Raum.

In der berühmten Toccata und Fuge d-Moll wechselt Latry in beinahe jedem Takt die Registrierung, nimmt hier eine „Trompette“ kurz hinzu, ersetzt sie nach dem Ende des Motivs durch eine andere, wechselt zwei Takte später das ganze Manual, um das Gleiche erneut zu tun und für etwa drei Sekunden lang die Illusion eines innermusikalischen Echos zu erschaffen. Noch im Nachhall eines riesig brüllenden Schlussakkordes beginnt er die nächste Phrase zu spielen, mit schwebenden, leisen Stimmen im geschlossenen Schwellwerk, die sich magisch aus der ausklingenden Fläche heraus erheben wie eine lang vergessene Erinnerung. Man hört, dass er sich wohl auch von Stokowskis Orchestrationen der Werke hat inspirieren lassen, von denen er sogleich zu schwärmen beginnt: „Ich kenne alles von Stokowski!“ Überhaupt seien Transkriptionen für andere Instrumente, so auch von Franz Liszt fürs Klavier, wichtige Ideenquellen für ihn, „sie helfen mir, die Werke noch einmal ganz anders zu hören.“

„Erbarm dich mein, o Herre Gott“ ist ein Gebet, das vielleicht glaubt, niemand höre ihm zu

Fast schicksalhaft klingt es, wenn man jetzt, in den Tagen nach dem Brand in der Kirche, den selten gespielten, durchaus unbekannten Choral „Erbarm dich mein, o Herre Gott“ hört, BWV 721, weit hinten also in den Bach-Gesamtausgaben und selbst in den gebräuchlichen noch mit Altschlüssel in der linken Hand notiert. Es ist ein auf den ersten Blick unscheinbares Stück Musik und auch etwas ungewöhnlich simpel, wenn man es mit dem meisten Anderen vergleicht, das der Virtuose Bach für die Orgel komponiert hat: langsam repetierende Akkord-Achtel und darüber die Choralmelodie in langen Halben, wenig Modulation, keine Polyphonie, harmonisch nicht ansatzweise so gewagt und modern wie etwa die sich durch den gesamten Quintenzirkel schiebende Fantasie g-Moll BWV542, die Latry auf dem Album direkt als nächstes folgen lässt. „Erbarm dich mein, o Herre Gott“ ist ein leises Lied, ein stilles Gebet, das deshalb so berührend ist, weil es vielleicht glaubt, niemand höre ihm zu. So einfach spielt es auch Latry, wählt Flöten und Prinzipale mit wenig Obertönen und in dunklen Farben und zeichnet die zarte Kantilene mit einer vibratolosen Zungenstimme nach, in schier zeitvergessener Ruhe.

Dass es diese Aufnahmen gibt, ist ein Geschenk. Sie porträtieren – außerdem auch fantastisch aufgenommen – nicht nur Frankreichs größte Orgel, sondern werfen auch ein interessantes Licht auf die ausgewählten Bach’schen Orgelkompositionen. Man sollte sich, vielleicht gerade jetzt, die Zeit nehmen und sich zum Hören mit einem Tee irgendwo hinsetzen, wo es ruhig ist – und sich trauen, die Boxen (wenn nicht hierfür, wofür sonst) einmal voll aufzudrehen.


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Johann Sebastian Bach

Bach To The Future // Olivier Latry

Olivier Latry

La Dolce Volta


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