Es regnet in Bergen. Es regnet und regnet, und niemals scheint es aufzuhören. Es regnet sogar so viel, im Schnitt 266 Tage im Jahr, dass man im Hotel Postkarten mit witzigen Sprüchen darüber auslegt. Zum Beispiel, dass die Krone eines Königs ja auch bloß ein Hut ist, der den Regen durchlässt. Auch das Bergen Philharmonic Orchestra nimmt es mit Humor, für Pressefotos ließ es sich stilecht mit Regenschirmen am Fjord ablichten. Eine Marketingabteilung würde das wohl als „authentisch“ betiteln. Regen gehört genauso zur DNA der Stadt wie Edvard Grieg, der hier geboren wurde und große Teile seines Lebens hier verbrachte. Entsprechend ist der norwegische Nationalkomponist hier allgegenwärtig, und selbstverständlich ist die Hauptspielstätte des Orchesters, die Grieg-Halle, nach ihm benannt. Nach wem auch sonst?
Das Bergen Philharmonic Orchestra arbeitet allein aufgrund der geografischen Lage ein wenig isoliert vom europäischen Klassikbetrieb. Unterschätzen sollte man das Orchester deshalb nicht. Längst ist es auf den großen Bühnen der Welt unterwegs, vom Concertgebouw bis zur Royal Albert Hall, gerade beendete es in Heidelberg seine Deutschlandtournee. Und die Planungen laufen schon wieder, bald geht es nach China.
Das Bergen Philharmonic Orchestra
Bereits 1765 gegründet, zählt das Bergen Philharmonic zu den ältesten Orchestern der Welt. Edvard Grieg höchstpersönlich, gebürtiger Bergener, leitete das Orchester von 1880 bis 1882. Später standen auch Komponisten wie Aaron Copland, Jean Sibelius und Krzysztof Penderecki mit ihrer Musik vor dem Orchester. Seit 2015 leitet der britische Dirigent Edward Gardner das Orchester.
Am Morgen meiner Abreise treffe ich den Chefdirigenten Edward Gardner in seinem Büro. Am Tag zuvor hatte er mit dem Orchester und der jungen norwegischen Cellistin Amalie Stalheim im Konzertsaal einen Stock tiefer ein kleines Mittagskonzert gespielt – ausgerechnet mit Musik von Edward Elgar, einem Briten, und, natürlich, mit Musik von Edvard Grieg.
niusic: Im Bergen Philharmonic Orchestra spielen Musiker aus vielen verschiedenen Ländern zusammen. Inwieweit ist das eine Bereicherung?
Edward Gardner: Obwohl Musiker aus der ganzen Welt bei uns spielen, hat das Orchester einen starken norwegischen Kern. Viele der Streicher haben gemeinsam hier in Norwegen studiert. Das prägt den Sound.
niusic: Inwiefern?
Gardner: Das ist schwierig in Worte zu fassen, am besten hört man es. Zum Beispiel am Anfang des zweiten Satzes von Griegs Klavierkonzert. Auch Elgar funktioniert mit diesem Orchester sehr gut – dieser seidige Klang, das passt wunderbar. Bartók ist für uns noch etwas schwieriger. Aber wir werden immer besser darin, uns anzupassen. Das Orchester ist beim Erkunden der Musik so unerschrocken! Das fordert mich heraus, mein Bestes zu geben.
niusic: Wie würdest Du die Beziehung vom Orchester zu seinem Heimatland beschreiben?
Gardner: Rein geografisch liegen wir ganz am Rand. Das merkt man vor allem, wenn man an Orten unterwegs ist, an denen es mehr gesellschaftliche Ströme gibt. Die Stadt Bergen hat schon immer hinaus geschaut nach Europa. Dafür haben wir hier eine enge Gemeinschaft. Das Orchester gehört der Allgemeinheit, jeder hat ein Recht, es zu hören. Wenn wir im Ausland sind, haben wir schon das Gefühl, Norwegen und die Stadt zu repräsentieren.
niusic: Ist die Beziehung hier besonders stark durch Edvard Grieg, der das Orchester drei Jahre lang geleitet hat?
Gardner: Wir nehmen uns durchaus als Griegs Orchester wahr. Aber Grieg selbst war ja sehr international: Brahms, Tschaikowski, Schumann, er stand mit all diesen Komponisten in Verbindung. Wenn wir in der Zeit zurückblicken, erwarten wir oft ein nationaleres Denken als heute. Aber das stimmt nicht.
niusic: Spielt ein norwegisches Orchester Griegs Musik anders?
Gardner: Schwierig. Ich finde, das Orchester hat einen wunderbaren Klang für Grieg. Aber ich mag die gesamte Bandbreite, die wir bedienen. 2015 haben wir ein Programm nur mit zeitgenössischen Komponisten aus Norwegen gespielt.
niusic: Sollte man Musik in Zeiten des Brexit globaler denken?
Gardner: Auf jeden Fall, so global wie möglich! Auch wenn es vielleicht merkwürdig klingt, wenn ich das jetzt als Brite sage. In den 1920er Jahren war das Musikleben in Großbritannien so international. Thomas Beecham zum Beispiel, der britische Dirigent, hat sich in London für Richard Straussʼ Opern eingesetzt, es kam enorm viel neue Musik nach London! Es ist beängstigend, dass wir nun weniger international denken.
niusic: Interessant. Auf der einen Seite international, auf der anderen lokal.
Gardner: Jedes Orchester braucht eine Basis. Dann kann man anfangen, wie ein Oktopus die Arme auszustrecken. Daher sind die nordischen Komponisten so wichtig für uns. Wir wollen diesen Wurzeln in Zukunft noch etwas mehr nachspüren. Sibelius. Nielsen. Das passt einfach zu uns.
niusic: Hat das, was gerade in London passiert, einen Einfluss auf das Musikleben?
Gardner: Je mehr sich die Situation verschärft, desto schwieriger wird es für die Musik. Das alles kostet sehr viel Geld. Natürlich gibt es die Befürchtung, dass man das im nächsten Kulturbudget zu spüren bekommt. Was man mit Musik in dieser Situation erreichen kann, dazu mache ich keine großen Aussagen. Aber Kultur kann für die Gesellschaft wie Hefe wirken. Und trotz allem glaube ich, dass es goldene Zeiten für die Musik sind in England, denn die Orchester sind fantastisch. Das darf man nicht vergessen.
Ein Komponist pro Land genügt
Das nationale Denken in der Musik ist an den Rändern Europas noch etwas stärker ausgeprägt als in der von zahlreichen Einflüssen geprägten Mitte. Für die Konzertpraxis in Deutschland scheint gerade bei Skandinavien die Regel „Ein Komponist pro Land genügt“ zu gelten. Edvard Grieg in Norwegen. Carl Nielsen in Dänemark. Jean Sibelius in Finnland. Aber natürlich sind diese Länder musikalisch nicht weniger vielfältig als Deutschland, wo man sich nun lange darüber streiten kann, ob Ludwig van Beethoven als Nationalkomponist bezeichnet werden darf – in jedem Fall schlüpft er zum großen Jubiläum 2020 in diese Rolle.
Im vergangenen Jahr erzählte Igor Levit auf Twitter davon, wie ein Ehepaar ihn nach einem Konzert – Goldberg-Variationen – einmal darauf ansprach, dass er ja so gut Bach spiele, obwohl ihm doch aufgrund seiner geistigen Herkunft der Zugang fehle. Die Empörung war groß und das völlig zu recht! Auf der anderen Seite scheint der Gedanke, dass ein norwegisches Orchester in Bergen Griegs Musik besonders „authentisch“ spielt, viel weniger abwegig. Obwohl er ja auf ähnliche nationale Denkmuster zurückgeführt werden kann.
Beim Heidelberger Frühling bewies das Bergener Orchester seinen Klangfarbenreichtum besonders in Richard Straussʼ „Don Juan“. Ob nun ein Brite, Norweger oder Deutscher am Pult steht – völlig egal. Wer aber durch Griegs Komponistenhaus vor den Toren von Bergen schlendert, wird schnell von jener Aura des Authentischen erfasst. Hier hat Grieg also komponiert, in dieser kleinen Hütte, mit Blick auf den Fjord. Welche Rolle sollte nationales Denken in der Klassikwelt also sinnvollerweise spielen? Wie sich beim Bergen Philharmonic Orchestra zeigt, ist der Spagat zwischen Lokalpatriotismus und Globalisierung eine vielversprechende Strategie. Diesem Orchester gelingt er ohne Zweifel auf eine reizvolle Art und Weise.
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