Wenn man die Grenze zwischen Nizza und Monaco überschreitet, verschwindet als allererstes der Netzempfang des Telefons. Minutenlang hält sich das Funkloch, während zur Rechten schon die Betonhochhäuser der kleinen Stadt aus dem Berg herauskriechen und zu enormer Größe hochwachsen, einem das Gefühl geben, gerade eine Festung betreten zu haben. Eine Festung der Schönheit, der Künstlichkeit und des Geldes, umgeben von einem Funkloch-Wassergraben.
Das letzte Wochenende des Festivals Printemps-des-Arts de Monte Carlo Anfang April fällt zusammen mit einem jährlichen Schönheitschirurgie-Kongress, für den Tausende nach Südfrankreich pilgern wie zum Cranach’schen Jungbrunnen, und die gläsernen Hotels bewohnen bis aufs letzte Zimmer. Wir fahren also mehrmals in diesen Tagen über den Funkloch-Wassergraben, und jedes Mal aufs Neue wirkt die Festung dahinter surrealer, olympartiger, eigentlich eher wie eine 3D-Computersimulation als wie eine echte Stadt. Monaco – dieses Bild einer perfekten Mini-Metropole, es ist einfach zu Gucci, zu Prada, zu schaufensterglänzend und krümellos, um irgendwie herzlich zu sein.
Aber genauso besitzt Monaco, eigentlich eine alte Kulturstätte, auch eine riesengroße Stärke: Geld ist hier, im zweitreichsten Land der Welt, einfach egal. In einem solch perversen Stadium des Kapitalismus, bei denjenigen, denen er wie ein Butler dient, spielt das, worum sich alles und alles dreht, insofern keine Rolle mehr, als dass es im Überfluss vorhanden ist. Das Budget für ein zu fast 100 Prozent von der Stadt Monaco subventioniertes Festival wie das Printemps-des-Arts wird nicht gekürzt, im Gegenteil, es steigt, zwar langsam, aber es steigt. Die restlichen 10 bis 5 Prozent übernimmt eine Bank, und weitere Spenden kommen in Sachform von anderen Partner:innen. Das nun ist aber nicht der wichtigste Grund, warum Intendant Marc Monnet den großartigen Spiel- und Gestaltungsraum hat, den er hat. Der Grund ist lebendig, 62 Jahre alt und eine Frau: Prinzessin Caroline von Hannover.
Sie holte Monnet 2003 zu sich – er bewarb sich nicht, nach Monaco wird man „geholt“ – und trug ihm auf, mehr zeitgenössische Musik zu programmieren, das Festival umzukrempeln, mehr Kunst zu machen und weniger zum Gefallen. Und hier sitzt er nun, 15 Jahre später, in einem kleinen Kellerraum neben der Kirche Saint-Charles, die Unterarme auf dem Tisch, die Hände gefaltet und antwortet auf meine Fragen so knapp und salopp, als wäre eigentlich alles ganz klar. „Das Publikum ist ein Konstrukt“, sagt Monnet. „Wer soll denn das sein, ‚das Publikum‘?“
Es sei der völlig falsche Weg, für eine vermeintlich homogene Gruppe von Menschen Musik aufs Programm zu schreiben, die ihr gefallen soll. Die Angst vieler Intendant:innen, durch anderes, moderneres Programm Besucher:innen zu verlieren, die Auslastung nicht halten zu können, sei unbegründet. Er nämlich mache seit 15 Jahren die Erfahrung, dass man ohnehin nie wisse, wer am Ende kommt und wer nicht, und eines sei sicher: „Die Musik ist nie das Problem.“
Dieses Festival ist wie ein kleines Versuchslabor. Das Geld ist da, und die Prinzessin macht keinerlei programmatische oder auslastungstechnische Vorschriften. Hin und wieder kam es vor, erzählt Pressesprecherin Sophie Verdure, dass Monnet und sein Team fürchteten, zu einem geplanten Konzert mit sehr speziellem Programm könnten möglicherweise nur 50 oder 70 Leute kommen. Im anberaumten Gespräch dazu sagte die Prinzessin aber wohl nur zwei Worte: „Na, und?“ Zu einem dieser Konzerte – Morton Feldmans fünfstündigem Streichquartett Nr. 2 – kam sie dann selbst, zog sich die von einem Viersternehotel geliehenen weißen Badepuschen an, mit denen man während des Konzerts leise den Raum verlassen und wieder betreten können sollte, und schlich über den knarzenden Dielenboden zu ihrem Platz. Sie blieb die vollen fünf Stunden, bis die Musiker des Quatuor Béla sich verbeugten.
„Unsere Aufgabe ist es, das Publikum zu schulen“, sagt Monnet. „Das Gehör zu trainieren, den Leuten zu zeigen, dass es nicht nur das gibt, was sie schon kennen.“ So schreibt er, wie dieses Jahr, nicht nur viel Stockhausen, Kagel, Markeas, Reubke, Dijk und so fort aufs Programm, mit den jeweils vorangehenden Einführungen, sondern steckt auch Energie in ans Festival angedockte Master-Classes und die Zusammenarbeit mit den regionalen Akademien und Schulen für Kinder und Jugendliche. Die Teilnehmer dieser Akademien wiederum treten in den Festivalkonzerten auf, nicht etwa in einem abgekoppelten Extra-Vormittagskonzert für „den Nachwuchs“, sondern auch ganz selbstverständlich in den Abendkonzerten neben den Stars und Profis.
Der Chor des Conservatoire de musique de Grasse, ein Kinderchor, sang Alexandros Markeas‘ „Les Vagues sur les corps“, ein zwischen Atem- und Mundgeräuschen, Vokalspielen und Text, gesungenen und gespielten Tönen changierendes Stück, im Grunde eine strukturalistische Studie über das musikalische Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen – das sangen sie, bevor der junge Hadrien Candito-Favier, Schüler der École municipale de musique de Beausoleil, Markeas‘ „Reflet“ auf der Klarinette spielte, und danach das Barockensemble Le Cris de Paris etwa eineinhalb Stunden lang mit überschäumender Energie und Musikalität Schütz-Psalmen rockte.
Marc Monnet
Als ginge kaum mehr Kontrast, donnerte und flüsterte und rauschte am Abend danach in der zweiten Kelleretage einer Schule für Gastronomie im Lycée Hôtelier aus acht Lautsprechern heraus Stockhausens „Oktophonie“. Ausverkauft. „Programmieren ist komponieren“, sagt Monnet, und meint das ganz wörtlich: Er arbeitet mit Themen und Motiven und gibt ihnen eine Form, einen Verlauf und eine Dramaturgie. Jedes Jahr ein Composer in Residence und jedes Jahr ein:e Komponist:in, die porträtiert wird. Dann: Musik vom 11. bis zum 21. Jahrhundert, in den einzelnen Konzerten miteinander formell oder inhaltlich durchaus verwoben, darüber hinaus aber so logisch und so beliebig kombiniert, wie es man es eben nehmen will.
„Die Spezialisierung ist das größte Problem der Klassikwelt“, sagt Monnet über andere Festivals, „dass es Barock-Festivals gibt, Neue-Musik-Festivals, Beethoven-Festivals.“ Denn dadurch erst zersplittere sich das Publikum, dadurch würde das, was ihm so wichtig ist, die Konfrontation mit Musik als Musik, ohne ihre Genres, ohne ihre Gewohnheiten, raus aus der Sozialisation und so weiter, das würde erst dadurch zum Problem werden und Leute davon abhalten, über ihre scharf gezogenen Horizonte mal hinauszuhören.
Oder anders gesehen: Weil es haufenweise hochspezialisierte Festivals gibt, kann Monnet seines überhaupt so planen, wie er es tut. Seine Spezialisierung unter den Spezialisierungen ist sozusagen die Ausnahme von der Regel: alles, wo es sonst nur einen Ausschnitt gibt, und einfach-mal-machen, wo es sonst den Zwang gibt, einem Publikum zu gefallen. Kapitalistisch gesehen würde sein Festival in einer Welt voller solcher Festivals kaum bestehen können. Aber genau das macht in dieser realen Welt seinen Wert aus.
Man beginnt förmlich durch dieses Programm zu schwimmen, gerät nach nur wenigen Konzerten in einen Musik-Flow, der Epochenbezeichnungen, Stile und vielleicht sogar Komponistennamen gar nicht mehr kennt. Nämlich erst Markeas und Schütz und dann Stockhausen zu hören, oder Mauricio Kagel, Beethoven und dann Bartók um die Ohren zu kriegen, an Orten wie dem Ozeanografischen Museum, dem fürstlichen Théâtre Princesse Grace, einem unromantischen Hotelkeller, alten Kirchen, der legendären Oper und einem Gucci-gläsernen Grimaldi-Forum, das bekommt etwas so wunderbar Normales wie ins Kino zu gehen oder ins Restaurant. Und so ist auch das Publikum: Leute, die 50 Kilometer die Serpentinen hochgefahren sind, um sich diesen Abend zu gönnen, und daneben das Monegassische Laufpublikum, Tourist:innen und Anwohner:innen, Auszubildende, Professor:innen, stolze Eltern von Musikschüler:innen, solche, die ein zeitgenössisches Stück nach dem Konzert „unhörbar“ nennen, und andere, die sich wundern, was denn mit Herrn Monnet los sei, dass er so klassisch programmiere dieses Jahr. Wie Monnet in die Tausend Jahre alte Wundertüte eines gigantischen Repertoires hineingreift und die Musik wie Glitzer streut, so wirkt auch das Publikum ein bisschen, als habe man kräftig in die Côte-d’Azur-Bevölkerungswundertüte hineingegriffen. Es geht also. Vielleicht hat er recht: Die Musik ist nie das Problem.
Er genieße die Freiheit, das sagt Monnet im Gespräch immer wieder. Trotzdem, und diese Forderung gehört wohl einfach zum Intendant:innen-Job dazu, könnte es noch mehr davon sein. „Ich würde gerne einmal die ganz großen Stücke aufführen“, sagt Monnet. Stockhausens „Carré“ für vier Orchester, vier Chöre und vier Dirigenten zum Beispiel, oder Charles Ives‘ „Universe Symphony“. Dafür braucht man Platz und Geld, das dafür dann wohl doch beides noch etwas zu knapp wäre. Aber er hat Zeit. Den Job macht er jedenfalls noch so lange, bis jemand anders auf den Intendant:innenthron geholt wird. Im Moment scheint die Prinzessin mit ihm und seiner Arbeit aber recht zufrieden zu sein.