Von Christopher Warmuth, 03.05.2016

Write a fugue?

Er war der Meister des Kuriosen! Über den Pianisten Glenn Gould ist bereits alles gesagt worden. Sein Leben, seine Macken, seine Eigenheiten, seine Sonderheiten sind plastisch vorstellbar: chronisch schlaflos, mit Tieren sprechend, seine Hände in heißes Paraffin tauchend, halluzinogene Substanzen genießend, in warmen Räumen eingemummelt.

„A record is a concert without halls and a museum whose curator is the owner."

Glenn Gould

Ja – das alles ist Gould. Diese Geschichtchen des schrulligen Sonderlings sind teilweise in Bild und Ton festgehalten, was für unsere Generation ein Segen ist, weil die Klavierrassepudel, die heute im Schnellverfahren von Labels gezüchtet werden, um in der nächsten Saison wieder im Zwinger zu landen, selten so Geistreiches von sich geben können, wie Gould es in seiner langen Laufbahn konnte. Anfang der sechziger Jahre bot die Canadian Broadcasting Corporation dem Pianisten eine Plattform, Musik im Stile Bernsteins zu vermitteln. Wir können uns über drei Dutzend Fernsehproduktionen von ihm erfreuen. Der Schwerpunkt von Goulds Interesse war die Fuge 47 , somit musste das alles 1963 konserviert werden.

  1. Was für eine barocke Rollenverteilung! Der Dux schreitet ins Stück, er übernimmt die Führung, bis der Comes sein Thema aufnimmt und sich mit der vorgestellten Melodie unter ihn schichtet, während der Dux fortfährt. Beide können nicht ohne einander und nähren sich vom anderen. (CW)

„The Anatomy of Fugue“.

Was für unfassbar lustige, unterhaltsame, informative und nachhaltig erhellende zwei Stunden der Fernsehgeschichte! Mit Sängern, einem Orchester, seinem Klavier und einem komplexen Thema hätte es Gould im heutigen Öffentlich-Rechtlichen schwer – ein solcher Aufwand wird für die Klassische Musik nur noch selten betrieben. Das eigentlich Kuriose findet sich am Ende der Sendung. Glenn Gould schrieb eine Fuge über die Fuge. Ein Streichquartett und vier Singstimmen bringen die Schwierigkeiten des Komponisten dabei mit viel Augenzwinkern auf den Punkt – und liefern zugleich ein perfektes Beispiel.

Was am Anfang satirisch daherkommt, hat es gewaltig in sich. Die formale Anlage ist – oh Wunder! – im Stile Bachs gehalten, mit einer Zweiteilung in der Mitte der Komposition. Die Zitate 5 reichen von Wagners „Meistersingervorspiel“ in Moll bis zur historisch aufgeladenen „B-A-C-H“-Tonfolge mit Passagen aus dem zweiten „Brandenburgischen Konzert“. Was das Ganze soll, ist unklar: Ist es ein satirischer Seitenhieb in Richtung der damaligen Fernsehmacher, die am Ende unbedingt ein didaktisches Resümee sehen wollten? Soll das Stück, so wie der Text es scheinbar will, wirklich zur Kompositionsarbeit einladen? Ist es eine Aufforderung, die musikwissenschaftlichen Regeln des Vertonens nicht gar so ernst zu nehmen? Oder ist es einfach nur ein irrwitziger Spaß?

  1. Aus meins wird deins, aber musikalischer Gedankenklau ist in der Musikgeschichte kein Verbrechen, sondern gang und gäbe. Entweder offensichtlich, also als Zitat, oder aber in Form einer Um- oder Bearbeitung einer bereits vorhandenen Komposition. So treffen sich manchmal ganz verschiedene Stile oder Epochen in ein und demselben Werk. (AV)



Glenn Gould On Television

Übrigens: Glenn Goulds legendäre Sendungen für die Canadian Broadcasting Corporation gibt es auch auf DVD. Man muss aber einiges an Sitzfleisch mitbringen, denn Gould hatte freie Hand in der Entwicklung seiner ebenso pädagogischen wie stets scharfsinnigen Befragung der Musikgeschichte. Das Spektrum reicht von der „Anatomie der Fuge“ über Beethoven und Schostakowitsch bis in die Moderne. Leider wurden der aktuellen Edition keine Untertitel spendiert, man ist also auf sein Schulenglisch angewiesen. Bei der stets immanenten Ironie Goulds manchmal kein leichtes Unterfangen! Aber ein herrliches Vergnügen.


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Glenn Gould On Television – The Complete CBC Broadcasts

Glenn Gould

Sony

© Don Hunstein


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