Von Anna Vogt, 17.03.2019

Volle Fahrt voraus

Seit dieser Saison ist Marcus Bosch Conductor in Residence bei der Norddeutschen Philharmonie in Rostock. Er legt die neue Route fest für ein Orchester, das in den letzten Jahren einigen Stürmen trotzen musste. Aber wohin soll es überhaupt gehen? Ein Ortsbesuch in Rostock.

Ein bedrohlicher Schrei durchschneidet die Luft, wilder Tumult entsteht im Wasser. Die träge Ruhe im Rostocker Hafen wird für einen Moment zerrissen von einem Miniaturdrama der Natur. Eine Möwe hat einen kleinen Fisch ergattert, in weiser Voraussicht setzt sie zur Flucht an, peitscht über das Wasser, mit aller Kraft. Endlich hebt sie ab, den silbrigen Fang fest im Schnabel. Doch zwei andere Möwen folgen ihr wie Raubtiere, wollen die Beute für sich. Die Szene scheint Sinnbild auch dafür zu sein, was das Rostocker Volkstheater in den letzten Jahren durchgemacht hat: In der bevölkerungsreichsten Stadt von Mecklenburg-Vorpommern beherrschten Diskussionen über Etatkürzungen und drohende Spartenschließungen die Schlagzeilen. Von Opernpremieren oder Konzerterlebnissen hat man eher wenig mitbekommen, stattdessen vor allem von den Rechtsstreitereien zwischen dem ehemaligen Volkstheater-Intendanten Steffen Piontek und der Stadt, von unschönen Debatten über Geld und den Wert von Kultur.

Etatkürzungen und drohende Spartenschließungen: die Schlagzeilen der letzten Jahre.

In der DDR galt das Volkstheater Rostock als wichtigste Bühne der Region, heute verfügt es mit ca. 300 Angestellten nur noch über weniger als die Hälfte seines früheren Personals. Und dennoch versorgt das kleine Theater mit seinen vier Sparten Schauspiel, Musiktheater, Tanz und Konzert Rostock und einen großen Teil der Ostseeregion mit einem breit aufgefächerten, ambitionierten Kulturprogramm.
Das hauseigene Orchester, die Norddeutsche Philharmonie, war nie ernsthaft von einer Schließung bedroht, anders als Schauspiel und Musiktheater. Sein Tarifvertrag habe es geschützt, meint der stellvertretende Volkstheater-Intendant Ralph Reichel, der zur nächsten Saison von Joachim Kümmritz die Intendanz übernehmen wird. Orchester zu schließen ist teuer, denn die Abfindungen sind vertraglich geregelt, anders als im Musiktheater, wo die Verträge ohne Abfindung einfach auslaufen können. Die letzten Jahre verbrachte das im Jahr 1897 gegründete Orchester ohne Chefdirigenten, seit dieser Saison wacht nun Marcus Bosch über die Konzertsparte und dirigiert selbst einen Großteil der zehn jährlichen Abo-Konzerte.

Mit Bosch hat sich das Orchester nicht nur künstlerischen Beistand geholt, sondern jemanden, der bereits in Aachen und Heidenheim mit großem Erfolg kulturelle Projekte auch finanziell vorangebracht hat, durch kluge Kooperationsnetzwerke, Freundeskreise, Sponsoring-Modelle. Dass er hier als „Conductor in Residence“ und nicht als Chefdirigent antritt, hat pragmatische Gründe: Mit seinen anderen Aufgaben als Professor einer Dirigierklasse in München und als Festspielleiter bei den Opernfestspielen Heidenheim hat Bosch vertraglich, aber auch rein zeitlich nicht die Möglichkeit, einen Chefdirigentenposten formal auszufüllen. Das ändert aber nichts daran, dass Bosch sich für „seine“ Norddeutsche Philharmonie verantwortlich fühlt, viel mit ihr vor hat. Eben doch wie ein Chefdirigent, nur ohne Personal- und Finanzverantwortung, wie er im Interview erzählt: für ihn eine traumhafte Situation.

Zeichen setzen und verführen: Marcus Bosch im Interview

Für seine erste Saison in Rostock hat Bosch einen russischen Schwerpunkt gewählt: In den Sinfoniekonzerten werden Werke von Schostakowitsch, Mussorgski und vor allem Prokofjew mit beliebten Klassikern kombiniert. Daneben gibt es Kammer-, Solisten- und Sonderkonzerte und eine sehr erfolgreiche „Classic light“-Reihe in der noblen Yachthafenresidenz in Warnemünde. Das volle Programm – und die meisten Konzerte sind weit im Voraus ausverkauft. Bei der Konzerteinführung zum 6. Sinfoniekonzert Ende Februar möchte ich von meinen Sitznachbarn, einem älteren Ehepaar, wissen, was sie von Marcus Bosch als neuem Dirigenten halten. „Wissen Sie“, sagt der ältere Herr und lächelt verschmitzt, „wenn ein Orchester keinen Chefdirigenten hat, dann verwildert es.“ Ganz ernst gemeint ist diese Aussage nicht, und doch steckt eine Grundsatzfrage dahinter, die sich jedes Orchester stellen muss und ganz unterschiedlich beantworten kann: Will es eine feste Bindung mit einem Dirigenten eingehen? Will es einen „Orchestererzieher“, wie Bosch sich im Interview selbst bezeichnet? Er ist sich sicher, dass so jemand für ein Orchester gut ist, wenn es bereit ist, sich auf diese Arbeit einzulassen. Das habe nichts mit Strenge zu tun, aber „erziehen heißt, immer wieder auf bestimmte Schwächen hinzuweisen und diese zu verbessern. Manche Orchester mögen das. Und die Norddeutsche Philharmonie wollte wieder zu einer Handschrift finden.“

Sich als gegenseitige Bereicherung wahrnehmen, nicht als Konkurrenz

Anders als ein reines Sinfonieorchester ist die Norddeutsche Philharmonie als Teil eines Mehrspartenhauses aber nicht auf sich selbst gestellt, sondern Teil eines kulturellen Gefüges. Und somit auch Marcus Bosch als ihr Chef. Ralph Reichel will den neuen Conductor in Residence nicht vorschnell loben. Als stellvertretender Intendant kennt er die Dynamiken im Haus, hat Verständnis für die Nachwirkungen der vergangenen Konflikte: „Es gab hier über lange Jahre viele Streitereien, viele Auseinandersetzungen und einen sehr radikalen Abbau. Da gab es Ängste und Misstrauen. Da haben Leute um ihr Überleben gekämpft. Das ging nicht ohne Schmerzen und ohne Beschädigung.“ Man scheint noch etwas davon zu spüren am Rostocker Theater. Doch Reichel betont auch, man arbeite an der Annäherung, etwa durch spartenübergreifende Projekte wie Ibsens „Peer Gynt“, das im April Premiere feiert. Schauspiel und Philharmonie, Musiktheater- und Tanzensemble werden hier zusammenwirken, und Reichel erkennt darin eine große Chance: „Dadurch, dass die Leute im täglichen Zusammenarbeiten, übers menschliche Miteinander eine andere Art von Zusammengehörigkeit erleben, entwickeln sich darüber positive Dinge.“ Dass das Orchester mit seinen Konzerten erfolgreich ist und sich ein eigenes Profil entwickelt, ist eben nur die eine Aufgabe für die Norddeutsche Philharmonie. Die andere ist, sich auch mit den Sparten Schauspiel, Musiktheater und Tanz wieder zu verbrüdern, sich als gegenseitige Bereicherung wahrzunehmen, nicht als Konkurrenz.

Auf Annäherungskurs

Einen positiven Impuls dafür wird sicherlich das neue Theater im Rostocker Stadthafen geben, das bis 2025 für etwas mehr als 100 Millionen Euro gebaut werden soll. Ein wichtiges Projekt vor allem auch für das Orchester, denn die trockene, knallige Akustik im derzeitigen Volkstheater mit seinen Plüschsesseln und Holzvertäfelungen bremst die Musik eher aus, als dass sie sie beflügeln würde. Es ist eben ein Theaterbau, die Scheinwerfer surren, der Geruch von Schminke und Kunstnebel scheint zur DNA des Raums zu gehören. Die Feinheiten von Klangfarben, vor allem aber auch die tiefen Register und die Differenzierungen in der Lautstärke haben hier wenig Chancen. Dass das neue Theater nun relativ schnell und unkompliziert geplant und finanziert wird, liegt auch an einer inzwischen deutlich verbesserten Zusammenarbeit zwischen Politik und Kultur, betont Reichel: „Die Stadt hat festgelegt, dass Theatervertreter in der Kommission für den Neubau sind. Es hat sich da viel bewegt im Sinne einer gemeinsamen Vision eines Hauses“. Stadt und Volkstheater, aber auch die Sparten Orchester, Schauspiel, Tanz und Musiktheater scheinen nach stürmischen Zeiten nun auf Annäherungskurs zu sein. Es herrscht Aufbruchstimmung im hohen Norden.

© Thomas Häntzschel/Fotoagentur Nordlicht


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