Die Frau an der Garderobe schaut auf den Schein in meiner Hand und schüttelt langsam den Kopf. Nein, Bargeld nehmen sie hier nicht. Es sei ohnehin schwierig heutzutage, mit Bargeld zu bezahlen. Ich, die ich kurz vorher noch einmal extra zum Automaten gelaufen war, hole etwas ungläubig meine EC-Karte hervor und bezahle die 20 Kronen, umgerechnet 1,87 Euro, an einem kleinen Kartenlesegerät, piep, die Frau nimmt meine Jacke entgegen und hängt sie an einen der Haken. Klingt wie Zukunftsmusik (traurig, dass es so ist), aber es ist Göteborg, Schweden im Jahr 2019. Und die Garderobe ist die des Konzerthauses im hippen Szeneviertel der Stadt.
Das Festival, das dort vergangenes Wochenende, Ende Mai, zum ersten Mal stattgefunden hat, kam mir nicht nur wegen des digitalisierten Settings vor wie von übermorgen, sondern auch in der künstlerischen Umsetzung mit ihrer irgendwie verspielten Mischung aus Uraufführungen, Repertoire-Klassik, Performance und Konzeptkunst in nie länger als eineinhalb Stunden dauernden Konzerten. Dass Komponistinnen und Dirigentinnen, Moderatorinnen und Expertinnen zu gleichen Teilen wie ihre männlichen Pendants das Programm des Point Music Festivals gestalteten, sei nicht einmal aktiv so geplant gewesen, sondern, wie Intendant Sten Cranner sagt, eigentlich ein Zufall. Auf den Tag genau 100 Jahre, nachdem Frauen in Schweden das Wahlrecht erhielten: Einfach Normalzustand statt Quote.
Drei Tage nach meinem Garderobenerlebnis nun sitze ich in einem starbucksähnlichen schwedischen Coffeeshop und bin verwirrt. All das hier ist ja keine Zukunftsmusik, sondern der aktuelle Stand der Technik und des Lebens, nur in Deutschland und meinetwegen auch anderswo ist das Leben auf diesem Stand längst nicht so selbstverständlich wie es sein könnte. Hier nun, an einem Ort, der einem genau das vorführt, wirkt die Spannung zwischen dem, was mal war, und dem, was eigentlich sein könnte, enorm. Und noch viel größer erscheint sie, wenn der Ort ein Festival mit klassischer Musik ist.
Seit Jahrzehnten steht die Klassik ja genau vor diesem Dilemma: Was vor 250 Jahren komponiert wurde, ist schließlich nicht einfach hintergründiger Einfluss auf die Musik, wie sie heute klingt, sondern es ist intensiv identitätsbildend. Es wird zelebriert und immer und immer wieder gespielt, es ist Hauptteil des Verständnisses und Selbstverständnisses von klassischer Musik: Das Alte im Heute zu reproduzieren. Ein Dilemma deshalb, weil Zeit nicht statisch ist, sondern weil sie vergeht. Der Blick auf das Alte verändert sich somit (und macht es interessant), aber es ist dennoch ein Blick, der zum großen Teil in die Vergangenheit gerichtet ist, und der logischerweise immer länger wird (was problematisch ist) – denn die Vergangenheit wird immer vergangener, je weiter die Zeit fortschreitet.
Dass zeitgenössische Musik heute viel zu kurz kommt, dass sie sogar teilweise gerechtfertigt werden muss in Konzertprogrammen und vor Intendanz und Publikum, dass das Interesse geschrumpft ist im Vergleich zu dem, das Zeitgenössisches noch vor 100 Jahren genoss, das ist sicherlich auch eine Folge dieser Dehnung, dieser Verlängerung des Blicks in die Vergangenheit. Dadurch verblasst eben nicht das Alte nach und nach, sondern im Gegenteil: das Neue. „Bach, Beethoven, Brahms ist tolle Musik“, sagte die Geigerin Patricia Kopachinskaya bei einem der „Point-Talks“ beim Festival, „aber es ist vergangen.“ Punkt. Es könne nicht die Zukunft der klassischen Musik sein, immer weiter hauptsächlich dieses Repertoire zu spielen. Betrachtet man die programmatische Aufmerksamkeit als einen Lichtkegel, dann liegt die Zukunft in diesem Bild im Dunkeln.
Die Zukunft der klassischen Musik aber als Zukunft der vergangenen Musik zu denken, ist paradox. Was Kopachinskaya eigentlich gesagt hat, ist: Die klassische Musik braucht neue Identitätsstützen. Jüngere. Es ist an der Zeit, den Blick, den Lichtschein neu auszurichten. Vielleicht nicht nach vorne, das wäre doch etwas viel verlangt, aber etwas weniger weit nach hinten. Weniger Richtung Wurzeln, mehr Richtung oberer Stamm und Äste.
Das bedeutet nicht, Bach, Händel, Haydn, Rossini, Schubert, Mozart, Brahms, Mendelssohn, Schumann und Beethoven aus dem Konzertprogramm zu streichen, um Gottes Willen. Aber vielleicht zuzulassen, dass bezüglich der rein quantitativen Gewichtung des Werks im Kanon wenigstens Messiaen oder Stockhausen oder Lutoslawski, Hindemith, Weinberg, Schostakowitsch, Xenakis, Ligeti, Boulez, Schnebel, Kagel und so weiter, meinetwegen auch Strawinski, Satie und Korngold, zunehmend an ihre Stelle treten und den Schwerpunkt verlagern. Und zwar: gelassen. Man kann souverän anerkennen, dass die anderen deshalb nicht verschwinden oder an Bedeutung verlieren werden.
Beim Point Music Festival passierte eben das. Man spielte Bartók, Bach, Thorvaldsdóttir, Staud, Rehnqvist, Beethoven, Janácek, Messiaen, Schostakowitsch, Sciarrino, Schönberg, Milhaud. Natürlich auch Bach, natürlich auch Beethoven. Aber vor allem 20. Jahrhundert, und auch etwas aus dem 21. Ein Blick, der das Alte bedenkt aber nicht zum Hauptakteur macht, der Beethoven über Janácek und Tolstoi spiegelt und Bach über den Jazzpianisten Bugge Wesseltoft, unter anderem, und wo Uraufführungen, zeitgenössischer Tanz und Soundkunst selbstverständlich dazugehören, ohne eines Schwerpunkts zu bedürfen. Es ist ein Blick, der durch und durch klassisch ist, aber verstärkt an eine jüngere musikalische Vergangenheit andockt. Er ermöglicht ein entspanntes, freies und zeitgenössisches Programmieren und Herumprobieren, ohne den seltsamen Touch des Revolutionären zu bekommen, weil der Kontrast zum Rest zu heftig ist. Das zu sehen ist so schön: Modern ist nicht wild und jung und unerhört. Es kann normal sein. Willkommen in der Gegenwart.
© Olaf Tryzna