Von Jesper Klein, 10.02.2019

Maestro aus Moskau

Drill, Wettbewerbsdenken und eiserne Disziplin – was ist dran an den Klischees über die harte russische Schule? Vor den Toren der Stadt Moskau probt das „Youth Symphony Orchestra of Russia“ für die bevorstehende Konzerttournee. Ein Reisebericht.

Das Taxi hält auf einem Parkplatz, irgendwo gut eine Autostunde von Moskau entfernt. Es ist dunkel. Durch die verdreckten Scheiben erkenne ich einen Supermarkt, der Fahrer telefoniert auf Russisch, er klingt ein wenig genervt. Ich verstehe kein Wort. Aus dem Radio dröhnen die Charts. Wo genau meine Fahrt enden soll, weiß ich nicht, vielleicht hier?
Wer zu einem Jugendorchester nach Russland fährt, hat – neben der Sorge, dass alles gut geht – unweigerlich ein paar Dinge im Kopf: die russische Schule, Wettbewerbe, Konkurrenzdenken, eiserne Disziplin. Ich denke auch an den kontrovers diskutierten Dirigenten Teodor Currentzis und sein Orchester MusicAeterna, das tief im Inneren des Landes angeblich bis spät in die Nacht hinein probt. Ich frage mich: Ist man in Russland womöglich eher bereit, alles für die Musik zu geben als in Deutschland? Oder reproduziere ich hier nur ein allzu beliebtes Klischee? Was erwartet mich?

Die Probenstätte liegt ein wenig im Wald versteckt

Das Taxi findet den Weg zum Hotel. Hier probt das „Youth Symphony Orchestra of Russia“ für die kommenden Konzerte, am 11. Februar in der Berliner Philharmonie, anschließend in Sotschi. Sie tun es in einem riesigen, merklich in die Jahre gekommen Bau mit sowjetischem Charme und einem Fahrstuhl, der, wenn er denn funktioniert, viel zu unheimlich ist, um ihn tatsächlich zu benutzen.
Anastasia Sukhobok, für alle organisatorischen Dinge verantwortlich, kennt die Vorteile dieser sonderbaren Probenstätte. Neunzig junge Musiker, zwischen 10 und 22 Jahre alt, im Moskauer Trubel? Besser nicht. Stattdessen Abgeschiedenheit und Landluft. Wer eine Pause vom anstrengenden Probenalltag braucht, könnte an der zugefrorenen Moskwa spazieren gehen. Das tut aber, abgesehen von mir, kaum jemand. Irgendwie bezeichnend.

Alles eine Frage der Mentalität?

Dabei sind die Tage lang: Um 10 Uhr beginnen die Stimmproben, nach dem Mittagessen folgt die erste Tuttiprobe 235 . Ein kurzes gemeinsames Abendessen, dann wieder Tutti, mindestens bis 20 Uhr, meist länger. Doch am Abend und früh am nächsten Morgen hat das Üben kein Ende, irgendwo im Hotel hört man immer eine Geige oder eine Flöte. Mit Zwang und Drill hat das allerdings wenig zu tun, der Probeneifer in der Freizeit geht hier von den jungen Musikern selbst aus. Ist es also eine Frage der Mentalität? Nikita Yankovsky, 18 Jahre alt, ein Hornist aus Nowosibirsk, kennt die Unterschiede zwischen dem russischen und dem europäischen Musikgeschäft – er studiert in Luzern. Für ihn betreffen sie durchaus auch die Frage der Einstellung: „Während man in Europa gerne von ‚Do or die‘ spricht, mach es oder stirb, würde man in Russland vielleicht eher sagen: Selbst wenn du stirbst, mach es noch.“ Erfolg um jeden Preis?

  1. Und jetzt alle! Wenn im Orchester-Tutti alle gemeinsam spielen, wackelt manchmal der ganze Saal. Umso größer das Orchester, umso lauter kann das werden, wie Bruckner oder Mahler in ihren Sinfonien beweisen. (AV)

„Wenn du dich hier umschaust, wirst du nur Instrumente aus Europa und Amerika finden, keine aus Russland.“

Nikita, 18, Hornist

Es wäre leicht, hieraus oberflächliche Schlüsse zu ziehen. Wer jedoch sieht, dass über 80 Prozent der Musiker des deutschen Bundesjugendorchesters heute als Profimusiker arbeiten, so eine aktuelle Studie, dem wird schnell klar, dass es neben der Bereitschaft des Einzelnen – ganz unabhängig davon, ob sie nun hier oder dort größer ist – auch auf das System dahinter ankommt. Für das junge russische Orchester, 2012 vom Bratschisten Yuri Bashmet gegründet, liegen zwar keine Zahlen vor, aber diese Quote wird es kaum erreichen. Für Nikita sind die Unterschiede zwischen Russland und Europa in puncto Ausstattung und Organisation offensichtlich. Natürlich komme es immer auf die einzelnen Umstände an, auf Lehrer, (Hoch-)Schulen, Orte, aber an sich seien die Strukturen in Europa besser, das gelte genauso für die Qualität der Orchester. Die Vorzüge betreffen zudem die Instrumente: „Wenn du dich hier umschaust, wirst du nur Instrumente aus Europa und Amerika finden, keine aus Russland“, sagt er. Dass auf der anderen Seite die russische Schule Europa in Geigen- und Klavierwettbewerben ein Stück Voraus sei, sei allerdings ebenso kein Geheimnis. Bei den Holzbläsern hingegen sehe es schon wieder anders aus.

Das „Youth Symphony Orchestra of Russia“

Das russische Jugendsinfonieorchester (YSOR) wurde 2012 vom Bratschisten Yuri Bashmet gegründet, bestehend aus 90 Musikern im Alter von 10 bis 22 Jahren. Um talentierte junge Künstler zu finden, gab es im ganzen Land Vorspiele. Hauptziel des YSOR ist es, das Interesse der Jugendlichen für klassische Musik zu wecken. Die letzte Auswahlrunde fand im Jahr 2016 statt, alle zwei Jahre müssen sich die Mitglieder neu beweisen. Insgesamt haben seit der Gründung mehr als 4500 junge Künstler an den Vorspielen teilgenommen. Das Orchester spielte 2014 bei der Abschlussfeier der Olympischen Winterspiele in Sotschi, Tourneen führten es unter anderem nach Amsterdam, Wien und Berlin. Finanziert wird das YSOR sowohl über staatliche als auch über private Gelder. Die elf Bildungszentren der „Yuri Bashmet Education Foundation“ machen sich neben der Talentförderung auch für den Erhalt der musikalischen Traditionen Russlands stark.

Claudio Vandelli leitet die Tuttiprobe

Bevor Yuri Bashmet zum Orchester stößt, leitet der zweite Dirigent Claudio Vandelli die Proben, ab 2020 wird er als Chefdirigent am Pult der neu gegründeten Würth Philharmoniker stehen. Vandelli kommuniziert viel, mal auf Englisch, mal auf Russisch, mal auf Italienisch. Ob das alles auch bei den jungen Musikern ankommt, ist nicht immer klar. Nicht alle sprechen Englisch, irgendwie hilft man sich aber gegenseitig. Immer wieder geht es um Intonation, um Phrasierung, um Akzente. Auch wenn das ermüdend ist und die Konzentration im Laufe des Tages naturgemäß nachlässt, Vandelli ist mit der Probenatmosphäre zufrieden. Im Gegensatz zum beharrlichen Erarbeiter weht mit der Ankunft von Yuri Bashmet unmittelbar eine gewisse Aura des Maestros durch den Probenraum. Bashmet spricht so leise, man meint, nur die Musiker in den ersten Reihen können ihn überhaupt verstehen – mit ihnen redet er, als wären es seine engsten Vertrauten.

Beim Konzert in der Berliner Philharmonie steht klassisches russisches Repertoire auf dem Programm: Pjotr Tschaikowskis Fantasie-Ouvertüre zu „Romeo und Julia“, Alexander Glasunows Violinkonzert in a-Moll und die fünfte Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Im Kontrast dazu werden aber auch Werke von Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn erarbeitet. Für Claudio Vandelli ist klar: Bei Mozart und Haydn begeben sich die Nachwuchsmusiker auf das schwierigere, weil weniger bekannte Terrain. Das bestätigt auch die 21-jährige Cellistin Vera Nebylova aus Kaliningrad, die in Brüssel studiert. In zwei Jahren wird sie die Altersgrenze des Orchesters erreichen, was sie schon jetzt ein wenig traurig macht. „Es ist wie eine Familie hier. Man probt zusammen, man isst zusammen.“

Russische Spielzeiten

453 Veranstaltungen in 77 deutschen Städten: Mit dem Festival „Russian Seasons“ bietet Russland seit zwei Jahren Einblicke in sein Kulturleben. Im Jahr 2017 fand das Themenjahr in Japan statt, 2018 in Italien, 2019 ist Deutschland an der Reihe. Das Programm von Regierung und Kulturministerium soll den interkulturellen Austausch fördern. Die Idee adaptiert die Tourneen von Sergei Djagilews legendären „Ballets Russes“. Zahlreiche russische Künstler und Ensembles präsentieren sich in Deutschland, hinzu kommen Ausstellungen und Filmprojekte. Im Rahmen des Festivals findet auch der Auftritt des „Youth Symphony Orchestra of Russia“ in der Berliner Philharmonie mit dem Violinisten Vadim Repin statt.

Die Moskwa westlich der russischen Hauptstadt

Wer einige Tage mit dem Orchester verbringt, merkt: Ob nun das Jugendsinfonieorchester in Moskau oder das Studentenorchester der Jungen Deutschen Philharmonie – in erster Linie geht es darum, jungen Künstlern, von der solistischen Ausbildung kommend, die Möglichkeit zu bieten, Erfahrung im Orchesterspiel zu sammeln. Hier können die Nachwuchsmusiker lernen, in jeder Hinsicht aufeinander Rücksicht zu nehmen. Gerade Claudio Vandelli legt in den Proben großen Wert darauf. Tipps wie „Schaut euch beim Spielen ein klein wenig aus dem Augenwinkel an“ können auch als universelle Ratschläge für das Zusammenspiel verstanden werden. Nikita schwärmt nach der Probe: „Das Orchester ist das beste Instrument der Welt.“ Einzelkämpfer? Fehlanzeige.

Am Ende ist das Bild der Musikausbildung in Russland eben doch auch mit Vorurteilen behaftet. Die offensichtlichsten Unterschiede liegen in jedem Fall nicht in der Motivation oder Mentalität des Einzelnen, sondern in den Strukturen. Das Bundesjugendorchester und die Junge Deutsche Philharmonie können auf über Jahre bewährte Systeme zurückgreifen. Dass im Vergleich dazu das junge russische Orchester über keinen englischsprachigen Internetauftritt verfügt, macht die unterschiedlichen Stadien deutlich, in denen sich die Ensembles befinden. Doch selbst wenn das „Youth Symphony Orchestra of Russia“ in diesen Punkten nicht Schritt halten kann. Sicher ist: Als ich am Tag der Abreise früh morgens auf mein Taxi warte, das eine halbe Stunde zu spät kommt, haben die ersten schon wieder mit dem Üben begonnen. Welchen Weg sie schließlich einschlagen? Das ist eine andere Geschichte.

© Youth Symphony Orchestra of Russia
© Außenaufnahmen und Probe: Jesper Klein


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