Von Silja Vinzens, 24.11.2018

In der Orchideen-Falle

Musik auf den deutschen Stundenplänen? Fehlanzeige! Sie wird entweder klein geschrieben oder taucht erst gar nicht auf. Wo ist das Problem? Ein Plädoyer für das Recht auf musikalische Bildung aller Kinder.

„Das Orchester muss in diesem Schuljahr leider ausfallen“. Das unscheinbare Blatt Papier, auf dem dieser Satz geschrieben steht, klebt nach den Sommerferien am Eingangsportal zur Aula. Das Schulorchester hat es schon lange vor meiner Zeit an diesem Gymnasium gegeben und auch noch lange danach. Bis heute. Aber jetzt soll damit Schluss sein. Jetzt, so sagt mir die Schulleiterin am Telefon, gäbe es keinen Raum mehr für die rund 20 Musiker. Man habe alles versucht. „Zu den infrage kommenden Zeiten ist das gesamte Gebäude ausgebucht. Die Bio- und Chemiearbeitsgruppen benötigen die Räume beispielsweise“, heißt es.

Der Gedanke, warum Bio und Chemie so viel wichtiger als Musik sein sollen, lässt mich nicht los.

Die Jugendlichen stehen vor mir, sie sind enttäuscht und empört. Für viele von ihnen ist es das letzte Schuljahr vor dem Abschluss. Sie hätten sich auf die Möglichkeit, noch einmal gemeinsam auf der Bühne zu stehen, gefreut, sagen sie. Daraus wird nun nichts mehr. Zurück in der Lokalredaktion schreibe ich einen Artikel darüber. Einen bissigen, kurzen Kommentar daneben kann ich mir auch nicht verkneifen. „Musik wird viel zu klein geschrieben“, lautet mein Titel. Doch die wenigen Zeilen reichen nicht aus, um meiner Wut Luft zu machen. Der Gedanke, warum Bio und Chemie so viel wichtiger als Musik sein sollen, lässt mich nicht los. Erst Anfang des Jahres äußerte sich einer der führenden Forscher auf dem Gebiet der Musikermedizin, Prof. Dr. Eckart Altenmüller, in einem Interview sehr besorgt über den immer häufigeren Wegfall von Musik auf den Stundenplänen. Dadurch werde eine Art von Kultur bedroht, die den Menschen nachhaltig mehr Lebensqualität, mehr soziales Engagement und mehr Gemeinschaftsgefühl gebe, lautete seine Warnung. Und damit ist er nicht allein. Wer sich auf die Spurensuche begibt, warum Musik in der „Special-Interest“-Schublade steckt, stellt eines schnell fest: Es gibt über die vergangenen Jahre hinweg immer wieder vereinzelte Bemühungen, auf das Thema aufmerksam zu machen. Von Vereinen, größeren musikalischen Organisationen, ja sogar auch mal von einzelnen Ministerien. Argumente gibt es genug: Kinder, die Musik machen, verbessern eben nicht nur ihr Sozialverhalten, sondern erhöhen auch den IQ-Wert, zeigen insgesamt bessere schulische Leistungen und kompensieren generelle Konzentrationsschwächen. Das hat der Musikwissenschaftler Hans-Günther Bastian bereits 2003 in seiner 700 Seiten starken Studie „Kinder optimal fördern – mit Musik“ belegt.

Doch in dem gleichgültigen Ton, den die Direktorin meiner ehemaligen Schule anschlägt, während sie mir versucht zu erklären, warum es nicht mehr funktionieren soll mit dem Orchester, wird ihr Achselzucken hör-, ja fast schon greifbar. Man stelle sich mal den Aufschrei vor, wenn das Gleiche mit Mathe oder Deutsch passieren würde. Die Geste der Schulleitung steht stellvertretend für die Haltung so vieler Führungspersönlichkeiten an deutschen Schulen und in den zuständigen Ministerien. So ist der Eindruck, der sich seit einigen Jahren schleichend verstärkt und wenigstens an Musik-Verbänden nicht spurlos vorübergeht. Der Landesmusikrat Niedersachsen etwa hat gerade erst im Frühjahr dieses Jahres die sogenannte „Wolfenbütteler Resolution“ vorgelegt. Darin formuliert die Mitgliederversammlung sehr klare Forderungen an das Land. Die Situation des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen in Niedersachsen sei dramatisch, lautet die Begründung.

Warum sind die Länder in Sachen Musik offenbar auf beiden Ohren taub?

Zum einen sei beispielsweise nicht gewährleistet, dass es bei der Umstellung auf G9 eine Chancengleichheit für Musik bei den Kurs- und Prüfungsfachwahlen gebe. Zum anderen würde in den Grundschulen, wenn es überhaupt Musikunterricht gebe, fachfremd unterrichtet. Fehlende Räume, wie in dem Fall des Schulorchesters, sind ebenfalls aus Sicht des Deutschen Musikinformationszentrums (MIZ) das geringere Problem. Auch diese Institution sieht den Ursprung vor allem in der geringen Anzahl von Musiklehrern. So geht aus einem Bericht der Einrichtung, die sich mit dem Musikleben in Deutschland befasst, hervor, „dass lediglich 20 bis 30 Prozent des erteilten Musikunterrichts an Grundschulen von fachspezifisch ausgebildeten Musiklehrerinnen und -lehrern unterrichtet sowie etwa 70 bis 80 Prozent des Unterrichts fachfremd oder gar nicht erteilt werden." Und Niedersachsen steht damit nicht allein da. Eine statistische Erhebung des Thüringer Bildungsministeriums aus dem Jahr 2016 hat ergeben, dass im Untersuchungszeitraum Anfang September 2016 an 65 von insgesamt 187 Thüringer Regelschulen kein vollumfänglich nach dem Stundenplan vorgesehener Musikunterricht stattfand.

Warum sind Entscheidungsträger in Sachen Musik offenbar auf beiden Ohren taub? Ist nicht gerade Musik diese eine universale Sprache, die jeder versteht und die damit sogar perfekte Grundlage für alle anderen Fächer sein könnte?

Leuchtturm-Projekte, wie etwa die Aktion „Klasse! Wir singen“, bei der jährlich bis zu 145.000 Schüler landesweit gemeinsam an einem Tag in großen Arenen singen, stechen heraus und zeigen einmal mehr, welch große Wirkung Musik auf die Jüngsten in unserer Gesellschaft haben kann. Aber die Frage, warum sich seither dennoch wenig an den Schulen bewegt hat, bleibt. Es ist an der Zeit, dass sich die vielen Organisationen für die Musik zusammentun! Damit sie unüberhörbar werden für jeden, der noch nicht begriffen hat, dass Musik aus der „Special-Interest“-Schublade geholt werden muss.

„Musik gehört einfach zur genetischen Ausstattung des Menschen dazu.“

Prof. Dr. Eckart Altenmüller

Oder, um es mit den Worten Prof. Dr. Eckart Altenmüllers auszudrücken: „Musik gehört einfach zur genetischen Ausstattung des Menschen dazu. Musik ist ein Teil von uns selbst, ein Teil unserer genetischen Information. Musik ist in der DNA von uns kodiert.“
Doch die Möglichkeit, dieses natürliche Verhältnis dazu bei Kindern auch weiterhin zu fördern und ein solch unterschiedliches Publikum zu erreichen, gibt es nur in der Schule. Es ist eine einmalige Gelegenheit! Denn im Klassenzimmer sitzen alle Kinder: Die, die vielleicht nachmittags auch noch Klavier in der Musikschule lernen, aber auch die, deren Eltern mit Musik schlicht nichts am Hut haben.

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