Kann es das geben, ein Leben ohne Geburt, eine Geschichte ohne Beginn, ein Theaterstück ohne Vorhang? Alles ist doch voller Anfänge, voller „Zauber“, voller Aufbruch – und selbst wenn Physiker:innen den Zeitpunkt des Urknalls mit unglaublicher Knappheit geradeso nicht nachvollziehen können, glauben viele Menschen heute doch daran, an die große Eruption, den Grund allen Seins, und an eine Regel: Alles hat einen Anfang. Und alles hat ein Ende.
Wirklich? Schon Erik Satie hat mit seinen „Vexations“ das Konzept des Anfangs und des Endes infrage gestellt – nämlich das des geschlossenen Werks: Das Klavierstück hat keinen Anfang und kein Ende. Es besteht aus einer einstimmigen Melodie und zwei Variationen – das Hauptmotiv soll insgesamt 840 Mal gespielt werden. Saties Rat an die Pianist:in:
„Um dieses Motiv achthundertvierzigmal zu spielen, wird es gut sein, sich darauf vorzubereiten, und zwar in größter Stille, mit ernster Regungslosigkeit.“
Erik Satie
Es beginnt schon weit bevor der erste Ton gespielt wird, und, Gott im Himmel, es klingt noch ewig nach.
Zu hören sind die „Vexations“ – was übersetzt „Quälereien“ heißt – wohl auch nur mit „ernster Regungslosigkeit“. Aufführungen von jeweils ganzen Pianist:innen-Teams dauerten bisher zwischen 12 und 28 Stunden, die Uraufführung am 9. September 1963 ging über 18 Stunden. Schon nach wenigen Minuten gerät man als Zuhörer:in in eine Art Trance, in der ein Ende dieses ewigen Kreisens gedanklich gar nicht mehr zur Debatte steht. Neue Musik par excellence.
Anfangs-und-endlose Musik muss aber nicht zur „Quälerei“ werden – und hier kommen wir zu Toshio Hosokawa, der noch einen Schritt weiter geht. In seiner Musik zeigt der 1955 geborene Komponist immer wieder, dass es so etwas wie einen ersten Ton gar nicht geben muss: Wann sollte der denn sein? Wenn die Musiker:innen Luft holen, um anzusetzen? Im Moment der Spannung unmittelbar vor dem physischen Erklingen?
Und wo beginnt das – etwa wenn die Saite sich langsam in Bewegung setzt und man noch gar nichts hört? Der „erste Ton“ ist in der zwölften Reihe des Zuschauerraums ein anderer als im Orchestergraben, wo er vielleicht kurz vor dem Einsatz schon in der Vorstellung der Musiker:innen existiert, oder schon viel früher, gar bevor die Dirigent:in die Arme hebt. Ist er nicht schon in gewisser Weise als schwarzer Punkt im Notensystem ein vollwertiger „erster Ton“?
Es scheint oft, als käme Hosokawas Musik aus genau solchen Überlegungen, förmlich aus einem „Nichts“ heraus, und als würde sie wieder in ein Nichts entschwinden oder eben gar nicht mehr aufhören, weil sie immer schon da war. Es ist eine Musik, die vorbeiwehende junge Opernbesucher:innen nach der Vorstellung „experimentell“ nennen, während sie durch die aufgestoßene Seitentür in den Minusgrad-Winter hinausgehen. Dabei könnte eine Musik wie die Oper „Stilles Meer“, die 2016 an der Hamburger Staatsoper uraufgeführt wurde, ursprünglicher, natürlicher, „ewiger“ kaum sein. „Stilles Meer“ ist vielleicht sogar die erste Oper, die wie Saties „Vexations“ als Werk über Anfang und Ende hinaus wächst.
Es geht um die grundlegenden Fragen: „Auch die Berge vergehen, das Meer vergeht, der Himmel vergeht“, wie der Chor singt – was bedeutet da das Vergehen eines einzelnen Menschenlebens? Das Meer spült die Körper der Toten, die es forderte, in seinem ganz eigenen Rhythmus zurück an Land, manche verstümmelt, manche vollends unkenntlich, und es lässt auch die trauernden Lebenden als entleerte Hüllen zurück, die die immer gleichen Worthülsen wiederholen – „zu Hause“, „geh weg“, „hör auf“, „Max“, das gebetete „Namu Amida Butsu“.
Ihre Fragen und Klagen richten sie an das Meer, das aber schweigt und seinen ewigen unverständlichen Sinn fortsetzt. Es rauscht am Anfang und es rauscht am Ende, es tobt am Anfang und es tobt am Ende, und zwischendurch schweigt es vollends. Hosokawas Musik ist symmetrisch, ein Porträt des Wassers, das sich von außen in Bewegung setzen lässt und das sein Umfeld in Bewegung setzt.
Alles ist Symmetrie in dieser Oper: Protagonistin Claudia dreht sich im Kreis, wenn sie den Tod ihres Sohnes nicht wahrhaben will, und auch der kleinen Miyuki bringt sie in Form der Pirouette bei, sich im Kreis zu drehen. Der Chor trägt in Oriza Hiratas Hamburger Inszenierung auch noch symbolisch kugelförmige Laternen auf die Bühne, die dominiert ist von einer ebenfalls kreisförmigen Glas-Plattform in Schräglage. In ihr spiegeln sich das Licht und die auf ihr stehenden Darsteller.
Der einzige Ausweg aus all diesem Immer-von-Vorne und Immer-das-Gleiche scheint eine provisorisch anmutende Rampe zu sein, die aber ausgerechnet nur Claudia gehen kann – und das tut sie auch. Sie folgt in ihrem Handeln der Protagonistin eines Theaterstücks, das sie gesehen hat, die ihren verstorbenen Sohn orpheusesk aus einer Art Unterwelt zurückholen will. Claudia wiederholt eine 500 Jahre alte Legende, als Theaterstück im Theaterstück, das die Besucher:innen der Staatsoper als Theaterstück präsentiert bekommen – aber mit einem entscheidenden Unterschied: mit Hosokawas Musik. Sie ist die Brücke von der Legende zum Opernsaal. Ohne ersten Ton und ohne letzten Ton, ohne Anfang.
Und ohne Ende ...