Von Anna Vogt, 14.08.2018

Spielplatz der Zukunft

13 Ur- und Erstaufführungen in 19 Konzerten: Das Jugendorchester-Festival „Young Euro Classic“ nutzt seinen Radius auch, um Neuer Musik Gehör zu verschaffen. Funktioniert das? Ein Besuch im hitzeerstickten Berlin.

35 Grad Celsius um 19:30 Uhr: Wie ein dicker Wollstoff liegt die Hitze auf Berlin. Doch am Gendarmenmarkt strömen die Leute unbeirrt über die große Freitreppe nach oben, werfen kurz einen Blick auf das mediterrane Ambiente auf einem der wohl schönsten Plätze Berlins und verschwinden ins klimatisierte Konzerthaus. Wie jedes Jahr zelebrieren hier 19 Jugendorchester und ein treues Publikum das zweiwöchige Festival „Young Euro Classic“. Das Festival-Motto „Hier spielt die Zukunft“ gilt dabei in zweifacher Weise. Denn mit den ausgewählten Studentenorchestern aus der ganzen Welt ist nicht nur der vielversprechende Nachwuchs eingeladen. Ein besonderer Schwerpunkt gilt bei „Young Euro Classic“ traditionell auch der Neuen Musik. In den insgesamt 19 Konzerten der diesjährigen Festivalausgabe kann man 3 Uraufführungen und 10 Deutsche Erstaufführungen hören.

Neues aus aller Welt: die diesjährigen Ur- und Erstaufführungen

Das klingt beeindruckend, auch wenn die Werke eine Randerscheinung beim Festival bleiben, dauern sie doch in der Regel keine Viertelstunde und bilden in vielen Fällen eher eine Art zeitgenössische Ouvertüre. Das ist legitim, Young Euro Classic ist kein Festival für Neue Musik. Stattdessen wird hier – quasi nebenbei und ganz undogmatisch – das bunt durchmischte Publikum dazu verleitet, sich zu Konzertbeginn auf die Neukompositionen mit noch frischem Geist und offenen Ohren einzulassen.
So wie beim Konzert des Symphonieorchesters der Musikakademie Ljubliana am 7. August. Das slowenische Orchester beginnt mit „The Symphonic Waltz” von Leon Firšt, gefolgt von Schumanns Klavierkonzert und nach der Pause „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss. Der 24-jährige Komponist, selbst noch Student an der Musikakademie Ljubliana, beschreibt im Programmheft seine Komposition mit:

„The Symphonic Waltz hat einen ernsten Charakter, manchmal klingt es wie eine Fanfare, voller virtuoser Elemente in der Orchestrierung und gegensätzlicher Texturen. Das Ziel war es, eine attraktive, lustige, kurze Komposition zu schreiben, wie eine Ouvertüre, mit klaren Anklängen an Musik der Vergangenheit, aber angereichert mit zeitgenössischen Ansätzen in Instrumentierung und Orchestrierung.“

Das riesig besetzte Orchester glänzt mit vertrackten Rhythmen, die den bekannten Walzer-Dreiertakt 113 mal deutlicher, mal nur noch als groteske Erinnerung erahnen lassen. Firšt spielt mit verschiedensten Klangfarben, mit flirrenden Passagen, bei denen die Streicher ganz nah am Steg spielen (sul ponticello) und einen eigentümlich metallischen Klang erzeugen, mit virtuosen Glissandi 49 und rauschhaften Ausbrüchen. So wechseln sich ganz unterschiedliche Stimmungsbilder ab, die mit den Mitteln des 21. Jahrhunderts an die sinfonischen Welten von Richard Strauss anzuknüpfen scheinen, die später an dem Abend erklingen: Firšts Walzer klingt wie Strauss auf Ecstasy.

  1. Weltraummusik! Ja, es ist Musik, die abhebt, die durch das Notensystem schliddert, wie Seife durch den Türschlitz. Es geht hierbei um die kontinuierliche Veränderung der Tonhöhe. Posaunen sind prädestiniert für das Geflirr. Aber auch Instrumente wie Flöten können das, da hört man aber den Übergang von Ton zu Ton. Ups. (CW)

  2. Schwer, leicht, leicht. Eins, zwei, drei. So drehen sich bei Kerzenschein die Tanzpaare zur Musik von Walzerkönig Johann Strauss durch einen Wiener Prunksaal. Es muss aber nicht immer getanzt werden. Viele Komponisten schrieben auch wunderschöne bis melancholische rein instrumentale Walzerstücke, in denen man schwelgen und leise mitschunkeln kann. Außer vielleicht beim Flohwalzer … (AJ)



„The Symphonic Waltz“ wird von den jungen Musikern unter der Leitung von Quentin Hindley mit so viel Präzision und Leidenschaft gespielt, dass das folgende Schumann-Klavierkonzert mit seiner etwas hölzern-routinierten Lesart auffällig blass bleibt. Vielleicht entsteht dieser Eindruck auch, weil man Schumann schon tausend Mal gehört hat und Leon Firšt vermutlich noch nie. Solche Kompositionen sind Neuland für Musiker und Zuhörer, ein spannendes, unbekanntes Terrain, das man für sich erschließen muss. Es trägt nicht den Ballast der Musikgeschichte in sich, den Vergleichsdruck durch Referenzaufnahmen.

Unbekanntes Terrain, das man für sich erschließen muss

Das macht Neue Musik für Jugendorchester eigentlich sehr attraktiv: Die jungen Musiker lernen die Techniken und die Bandbreite moderner Musik kennen und dürfen, nein: müssen dabei einzigartig sein, ihre eigene Interpretation finden. Oder können Fragen zu Spieltechniken und Effekten mit dem Komponisten direkt besprechen. In Berlin kann man so in wohldosierter Form ein breites Panorama von ganz unterschiedlichen Kompositionen erleben, die man hierzulande sonst kaum auf dem Schirm hätte, wie etwa die Musik des rumänischen Komponisten Dan Dediu. Er ist etwa doppelt so alt wie Firšt und in Rumänien als Komponist und Universitäts-Direktor bereits eine feste Größe. Auch in der Beschreibung seiner Komposition „Levante“ könnte Dediu mit seinen Wort-Kaskaden kaum unterschiedlicher sein als Firšt:

„Chimärische Mindmap des generischen Ostens, wie in Schumanns Bilder aus Osten? Zentraler Punkt einer spirituellen Geometrie, wie in Kagels Stücke der Windrose? Hommage an die Ferne wie in Ligetis Lontano? Alle drei, bestimmt, und noch mehr: ein symbolisches, auditives Mandala, rückwärtsbewegende Form (...) eine musikalische Transposition der Straßenarchitektur meiner (und Xenakis`) Heimatstadt Braila, wo alle Straßen konzentrische Halbkreise (an der Donau beginnend und endend) um eine zentrale Achse bilden, in eine Menorah-geprägte Form.“

Ob einen solche Werk-Beschreibungen beim Zuhören beflügeln oder eher ausbremsen, das empfindet wohl jeder anders. Doch bei der Uraufführung durch das Nationale Jungendorchesters Rumäniens und Christian Mandeal am 9. August ist jeder intellektuelle Ballast schnell vergessen. Die Musik beginnt mit verstörenden Clustern in rhythmischen Zuckungen, aus denen sich immer wieder schallende Bläserfanfaren herausschälen. Mit dieser Klanggewalt und seinem rhythmischen, oft fast motorischen Drive erinnert das Werk an Schostakowitschs Musik, dessen 11. Sinfonie im zweiten Teil des Konzerts auf dem Programm steht. Dadurch verbindet auch hier die Konzertdramaturgie stimmig die zeitgenössische mit einer älteren Komposition. Zwischendurch beruhigt sich die lärmende Kraft, verwandelt sich in fröhliche Volksmusik, zu denen sich die in Rot, Weiß und Schwarz gekleideten Musiker erheben wie zum spontanen Improvisieren. So schwankt Dan Dedius Komposition – ähnlich wie die von Firšt – zwischen Groteske und Tanz, spielt gekonnt mit Stilbrüchen und den Mitteln der riesigen Instrumentierung und entfesselt mit ihrem effektvollen Schluss begeisterten Applaus im Publikum.

Solche Publikumsreaktionen fließen ein in die Bewertungen einer Jury, die bei „Young Euro Classic“ jedes Jahr an eine der Ur- und Erstaufführungen den Europäischen Komponistenpreis vergibt. Ausgelobt wird dieser mit 5000 Euro dotierte Preis vom Regierenden Bürgermeister der Stadt Berlin. Das Besondere an der Jury: Alle Mitglieder sind Musik-Laien, nur der Vorsitzende – in diesem Jahr erstmals der Komponist und Kompositionsprofessor Manolis Vlitakis – ist vom Fach. Er berät die Jury und moderiert die Sitzungen, die alle paar Tage stattfinden. Stimmrecht hat er keines, die Entscheidung liegt ganz bei den Amateur-Musikliebhabern, die in diesem Jahr zwischen etwa 40 und 70 Jahren alt sind.

Manolis Vlitakis

Mit Hilfe eines Fragebogens bewerten sie jedes Werk des Wettbewerbs nicht nur nach Dramaturgie und Instrumentierung, sondern auch nach „Erstem Eindruck/Appeal“ („hat mich interessiert, hat mich positiv berührt, begeistert, gelangweilt, kalt gelassen, geärgert …") und „Einfallsreichtum“ („Neue Ideen, interessante Motive, kam mir irgendwie bekannt vor“). Die Message: Man braucht kein Fachwissen, um sich ein Urteil über eine Komposition zu erlauben.„Der Gedanke hinter der Laien-Jury ist der, dem Publikum eine Stimme zu geben“, sagt Vlitakis zu diesem ungewöhnlichen Konzept.

Objektiv geltende „Kriterien“ gibt es für die Beurteilung und Bewertung von Neuer Musik ohnehin kaum noch. Bei „Young Euro Classic“ geht es darum, das Publikum für zeitgenössische Musik zu interessieren, im besten Falle zu begeistern. Denn „bei diesem Festival wird ein breiteres Publikum angesprochen, insoweit hat die Verankerung neuerer Werke in der Programmierung auch eine wichtige Erziehungs-Funktion“, meint Vlitakis dazu. „Man darf vielleicht in den meisten Fällen nicht die neuesten Ästhetiken und Kompositionstechniken erwarten. Auch die Orchester wollen meistens keine großen Risiken mit den Werken eingehen, die sie nach Berlin mitbringen, und setzen daher auf Kompositionen, die sie für repräsentativ erachten. Dennoch gibt es eine undogmatische Breite an Stilistiken und oft eine Auseinandersetzung mit nationalen Traditionen oder mit aktuellen Tendenzen in bestimmten Ländern – das erlaubt einen multiperspektivischen Blick“.

Am letzten Festivaltag wird die Jury dann ausnahmsweise die Generalprobe besuchen, um abends beim Konzert schon den Gewinner des Europäischen Komponistenpreises 2018 zu verkünden. Ein letztes Spotlight auf die Neue Musik, die hier ganz unprätentiös ihren Platz in der Gegenwart behauptet – und sich damit auch die Zukunft sichert.

© MUTESOUVENIR I Kai Bienert
© Manolis Vlitakis


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