Von Thilo Braun, 10.08.2018

Avantgarde antiqua?

Passt moderne Architektur in ein mittelalterliches Stadtbild? Der Konflikt um das Concertgebouw Brügge charakterisiert den Clash zwischen Tradition und Moderne. Die Musikszene in Brügge nutzt ihn produktiv.

Eine riesige rosafarbene Raupe schwimmt auf dem Wasser. Wer vom Ufer in ihren Plastikkörper krabbelt, wird auf einer hölzernen Plattform wieder ausgespuckt, von der eine Badeleiter in den Kanal führt. Die Installation des spanischen Architekturbüros selganscano will Erholung bieten, steht im Begleitheft zur Triennale 2018 im belgischen Brügge. Das quietschrosa Ungetüm wirkt an diesem Ort allerdings eher wie ein Eindringling.

Am Ufer rattern Pferdekutschen über Pflastersteine, Fassaden prächtiger Patrizierhäuser glänzen in der Abendsonne. Der Wind weht Glockenklänge vom Belfried herüber, dem leicht schiefen Turm am Marktplatz, Überbleibsel der florierenden Handelsmetropole des 13. Jahrhunderts. Brügges Altstadt gilt als eine der schönsten in Europa. Und die Stadt tut alles dafür, diesen Ruf zu pflegen: Weder Plakatwände noch moderne Straßenbeleuchtung erlaubt sie, selbst Häuserfassaden müssen bei Renovation dem historischen Stadtbild gleichen.

Ärger über den Neubau

Und doch stolpert man stetig über die Neuzeit. Nicht nur im Rahmen der Triennale, die unter dem Motto „Liquid City“ fünfzehn Skulpturen internationaler Künstler in der Stadt verteilt hat, sondern auch in der Musikszene der Stadt. Historisch Gewachsenes existiert neben eigenwilliger Avantgarde, Spezialistentum neben Mainstream. Die Musikstadt Brügge steckt voller Gegensätze.

Den entscheidenden Wandel brachte 2002 die Ernennung zur Europäischen Kulturhauptstadt und der damit verbundene Bau eines Konzerthauses. „Man liebt es oder man hasst es“, sagt der künstlerische Leiter des Concertgebouw Jeroen Vanacker, ein nachdenklich wirkender Intellektueller mit Hornbrille und freundlichen Augen. Das Gebäude ist tatsächlich schwere Kost: ein riesiger, mit rötlichen Ziegeln geschuppter Kasten, der sich am Rande der Altstadt breitmacht, sechzig Meter breit und dreißig hoch. Moderne Architektur dieser Größe bedeutete einen Affront für viele Brügger Bürger, die um ihr historisches Stadtbild fürchteten.
Jeroen Vanacker begreift den Kontrast dagegen als Chance: „Das Concertgebouw ist ein Symbol für zeitgenössische Kunst. Die Architektur ist ein Statement, ein Erkennungszeichen dafür, dass Brügge auch heute noch eine lebendige Stadt ist.“ Wer an einer der zahlreichen Führungen teilnimmt, erfährt, dass das Architektenteam Robbrecht & Daem sogar etliche Bezüge zum Stadtbild eingebaut hat: die Terrakotta-Fassade erinnert an die Ziegeldächer, der flache Turm an den Belfried, bunte Glasfronten an die Rosetten in den Kirchen der Stadt.



„Es reicht nicht, nur einen Dialog zwischen alt und neu zu führen, man muss das auch auf originelle Weise tun.“

Jeroen Vanacker

Einen Blick in die Vergangenheit aus moderner Perspektive werfen, darum geht es auch Jeroen Vanacker. Auffallend viel Neue Musik und zeitgenössisches Repertoire steht auf dem Programm des Concertgebouw. Vanacker betont jedoch einen wichtigen Aspekt: „Es reicht nicht, nur einen Dialog zwischen alt und neu zu führen, man muss das auch auf originelle Weise tun“. Was er damit meint, verrät ein Blick auf die kommende Saison. Sie steht unter dem Motto „Kosmos“ und soll Beziehungen zwischen Wissenschaft und Kunst untersuchen. Barocke Sichtweisen aufs Universum treffen auf Lectures moderner Wissenschaftler, Holsts Planeten auf NASA-Fotografien. Ein Motto für die Saison gibt dabei nicht nur dem künstlerischen Team kreativen Input, sondern auch dem Publikum eine Orientierung, wenn Werke oder Interpreten unbekannt sind. Das Concertgebouw hat sich die Gunst der Bürger mittlerweile erkämpft. Fast jeder zweite Besucher kommt aus Brügge, was bei einer dermaßen von Touristen überhäuften Stadt eine beachtliche Quote darstellt.

Vielleicht kommt Jeroen Vanacker neben seiner guten Arbeit auch die Mentalität der Brügger zugute. Sie gelten als introvertiert, aber nicht verschlossen. Es braucht seine Zeit, aber wer gute Argumente hat, wird angehört. Für die Musikszene bedeutet das: So schwer es ist, ein Publikum zu gewinnen, so treu ist es, wenn es einmal da ist.

Problematisch wird Konservatismus, wo er zur Ausgrenzung führt.

Entscheidenden Anteil an der Publikumsbindung hatte mit Sicherheit auch Anima Eterna Brügge, das als Residenzorchester im Concertgebouw heimisch wurde. Seit der Gründung 1987 haben sich die Musiker zu einem der besten Ensembles für historisch informierte Aufführungspraxis entwickelt, auch der Fankreis in Brügge wuchs stetig. Gründer und Leiter ist Jos van Immerseel, mittlerweile 72-jähriger Pianist und Dirigent aus Antwerpen. Heute wohnt er ebenfalls in Brügge: „Ich fühle mich sehr gut hier. Eine lustige Stadt, nicht zu klein, nicht zu groß.“, sagt Immerseel und blickt mit verschmitztem Lächeln über die Brille. Der Fisch auf seiner Gabel wagt erneut einen Versuch in Richtung Mund, hat es jedoch schwer, dort anzukommen, denn stets ist da erst noch ein Gedanke, eine Geschichte, die erzählt werden will.
„Die Leute in Brügge sind konservativ. Aber es gibt durchaus positive Seiten von Konservatismus!“, sagt Immerseel. Dass solche Worte von einem Mann kommen, der in der Musikwelt bislang eher mit der Tradition brach als sie zu bewahren, überrascht. Allerdings meint Immerseel kein stupides Festhalten an Gewohnheiten, sondern ein Bewusstsein für bereits existierende Schönheit. Problematisch werde Konservatismus in dem Moment, wo Angst vor Überfremdung zu Ausgrenzung führe. Auch diese Art von Konservatismus musste Immerseel erleben: „Wir haben einige Male strenge Beurteilungen durchs Ministerium gehabt, denn wir sind öffentlich bezuschusst. Sie haben gesagt: Es sind zu wenige Flamen im Orchester für eine flämische Subvention.“ Tatsächlich kommt nur eine Handvoll Musiker aus Belgien. Politisch war diese Entscheidung jedoch nie: „Wir arbeiten in einer Nische, selbst innerhalb der klassischen Musik, weil wir mit historischen Instrumenten arbeiten. Die Musiker machen extrem viele Nachforschungen. Und solche Leute wohnen nun mal leider nicht in meiner Straße.“



Keinen Respekt vor Beethoven?

Immerseel schaffte es bislang, die Kritiker abzuwehren. Sicherlich nicht zuletzt durch die Qualität der Konzerte. Immer wieder gelingt es ihm mit Anima Eterna, auch altbekannte Werke in völlig neue Gewänder zu kleiden – oder ihnen unpassende auszuziehen. Antrieb dabei ist der Anspruch, dem Willen der Komponisten so nahe wie möglich zu kommen. In der Kompromisslosigkeit, mit der Immerseel dieses Ziel verfolgt, gilt er einigen als zu dogmatisch. Macht es einen Unterschied, ob ein Oboenkonzert von Bach auf einem englischen oder deutschen Instrument gespielt wird? Hat ein Orchester, das Beethovens „Eroica“ in großer Besetzung spielt, tatsächlich „keinen Respekt vor Beethoven“, wie Immerseel das vertritt?

Wer auf einer Goldgrube sitzt, sollte nicht anfangen, nach Öl zu bohren!

„Für mich ist es auch Alte Musik, wenn Natacha Kudritskaya Rameau auf dem Steinway-Flügel spielt“, sagt ausgerechnet der Verantwortliche jenes Festivals, das sich die Alte Musik auf die Fahnen geschrieben hat. Tomas Bisschop ist Leiter des MAFestivals, das früher einmal „Musica Antiqua Festival“ hieß, bevor er 2008 die Zügel in die Hand nahm. Seither hat sich nicht nur das Design, sondern auch die Ausrichtung verändert. Aus einem Szenetreff für Alte-Musik-Kenner wurde ein Festival mit wechselnden dramaturgischen Schwerpunkten für Jedermann. Das gefällt aber nicht jedem: „Wer auf einer Goldgrube sitzt, sollte nicht anfangen, nach Öl zu bohren!“, schimpft ein Mann auf der Musikinstrumenten-Messe. Das Gold, dessen Verlust er beklagt, ist der Fachdiskurs über historisch-informierte Spielweisen und daran orientierte Konzerte. Bisschop rüttelt am Fundament: „Ich war im ersten Jahr noch etwas provokanter als heute, weil ich Produktionen mit Turntables machte, auf denen Musik von William Byrd geremixt wurde in einem Late-Night-Konzert. Die Leute haben sich überhaupt nicht mehr zurechtgefunden.“

„Die Aktualität hat uns eingeholt“

Und doch kommen die Kenner nach wie vor nach Brügge, auch im 55. Festivaljahr 2018. Vielleicht, weil beide Seiten sich aufeinander zubewegt haben, vielleicht weil Bisshop weniger radikale Experimente erzwingt und die Alteingesessenen akzeptieren, dass auch mal eine zeitgenössische Komposition zwischen alten Werken steht, solange die Qualität insgesamt stimmt. Ähnlich wie Vanacker am Concertgebouw versucht Bisschop ebenfalls, über Geschichten Brücken zum Alltag zu bauen. „Cherchez la femme“ lautet das Festivalthema 2018, in Zeiten der #metoo-Debatte wirkt das ausgesprochen politisch.

„Die Aktualität hat uns eingeholt“, sagt Chef-Dramaturgin Katherina Lindekens und lacht. Wie das gesamte Team des Festivals wirkt sie absolut unprätentiös: ein schlichtes, graues Stoffkeid, schulterlange Haare, eine einnehmende Art. „Ich fand es spannend zu sehen, wie oft in Musik und Kunst von Frauen geredet wird, wie selten dabei aber Frauen die Schöpferinnen dieser Werke sind.“ Unter diesem Aspekt Händels „Rinaldo“, Mariengesänge oder Virginal-Kompositionen aus dem elisabethanischen England zu betrachten, ermöglicht tatsächlich interessante Bezüge. Zwar bleibt die thematische Auseinandersetzung meist oberflächlich, jedoch manifestiert sich in der Summe aller Festivalkonzerte ein Bewusstsein für Rollenbilder, das auch den Blick auf unsere Gegenwart beeinflussen dürfte.

Die Stadt ist so klein, dass man sich zwangsläufig über den Weg läuft

In der Sint-Gilliskerk, einer gotischen Kirche mit farbenfrohen Glasfenstern im Norden der Stadt, ist gerade Konzertpause. Anstatt zur Tür hinaus ins Freie, stürzen etliche Zuhörer nach vorne, zu den Instrumenten, die das Ensemble „La Fonte Musica“ auf der Bühne gelassen hat. Auf dem Programm stehen Gesänge aus Mittelalter und Renaissance, begleitet von Fiedeln, Laute und Clavichord. Nach dem Konzert wird vor der Tür intensiv über die Erlebnisse debattiert. Man spürt das Interesse des Publikums, bei Kennern wie bei Laien.

Vielleicht ist diese Auseinandersetzung mit dem Inhalt in Kombination mit einer kritischen Grundhaltung eine Chance für Brügge. Kulturschaffende müssen über einen längeren Zeitraum um die Gunst ihres Publikums kämpfen, das bewahrt vor Schnellschüssen. Die Stadt ist so klein, dass man sich zwangsläufig über den Weg läuft und künstlerische Arbeit nicht im luftleeren Raum verpufft, sondern den Stadt-Diskurs bereichern kann. Gleichzeitig sind Großstädte wie Brüssel und Gent nahe genug, um Tagestouristen anzulocken und dem Puls der Zeit nachzuspüren.
Der polnische Triennale-Künstler Jaroslaw Kozakiewicz hat am Vismarkt eine Brücke über die Gracht gebaut. Sie ist so schmal, dass sie Begegnungen erzwingt. Ob man sich darauf die Köpfe einrennt oder neue Freundschaften schließt, liegt an der Toleranzbereitschaft jedes Einzelnen.

© Concertgebouw: Marc Ryckaert /wikimedia commons/CC BY 3.0
© Thilo Braun


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.