Das einzige, was hin und wieder die Stille unterbricht, ist das Läuten der kleinen Kirchenglocke der Igreja São Tiago. Alle fünfzehn Minuten schlägt sie mit einer rührenden Gehorsamkeit die Stunden, deren Anzahl hier auf dem Berg, im 800 Meter hohen Marvão, bedeutungsloser nicht sein könnte. 70 Menschen leben in der winzigen Stadt. Sie betreiben fünf Restaurants, ein Museum und einen Supermarkt, arbeiten in drei Hotels, wenigen Cafés und Bars und schmücken nach Feierabend ihre Häuser mit roten Blumengestecken und Lavendel. Wohl nirgends auf der Welt gibt es mehr davon als hier: Zeit, die stehen geblieben zu sein scheint. Und eine unvergleichliche Stille, an die die treue Kirchenglocke erinnert, indem sie sie durchbricht. Alle fünfzehn Minuten.
Wie die Sopranistin Juliane Banse und ihr Mann, der Violinist und Dirigent Christoph Poppen, diesen Ort bei einer Fahrradtour „entdecken“ konnten, wird durchschnittlich sportlichen Menschen schleierhaft bleiben. Mehr als 50 Kilometer geht es nämlich bergauf: Die letzten Straßen auf der zweieinhalbstündigen Autofahrt vom Lissaboner Flughafen aus werden immer steiler, je näher man Marvão kommt. Vor Ort treten an die Stelle des glatten Asphalts dann Pflaster aus naturbelassenen Steinen, Stufen und Treppen. Manche Bereiche der Stadt erreicht man mit dem Auto deshalb gar nicht oder nur über Umwege. Wer sich in Marvão bewegt, ist zur Langsamkeit gezwungen. Die Stadt wirkt wie ein großes, verwinkeltes Haus ohne Dach.
Kurz nach ihrem ersten Besuch kauften sich die radelnden Musiker ein Haus direkt im Ortskern, einfach so. Es sollte ein Paradies der Ruhe werden, fern der Bühne, fern der Arbeit. Ein kleines Ende der Welt, wo sie niemand so schnell finden würde. Nur blieb es dabei nicht lange. Das Ehepaar holte den Strudel, aus dem es eigentlich ausbrechen wollte, hinein in seine Oase: „Wir fanden, eigentlich fehlt in Marvão nur die Musik“, sagt Christoph Poppen. Die Stille war dann doch zu laut. Sie luden befreundete Künstler ein, gaben Konzerte für Besucher und Bewohner und gründeten daraus schließlich ein Festival: das „Festival Internacional de Música de Marvão“. Kurz: FIMM.
Das war vor fünf Jahren. Als Wochenend-Experiment gestartet, ist das FIMM mittlerweile auf fast zwei Wochen ausgedehnt und „expandiert“ mehr und mehr in die Nachbarorte. Zum ersten Mal fand vergangenes Jahr sogar ein Konzert im nur sieben Kilometer entfernten Spanien statt. Und in diesem Juli gab es weitere Kooperations-Premieren, beispielsweise mit der Kirche Fundação Nossa Senhora da Esperança in Castelo de Vide, nur ein Stück den Berg hinunter.
Letzteres war ein „Experiment“, sagt Poppen, örtlich wie musikalisch: die langjährige Burgtheater-Schauspielerin Erika Pluhar und ihr guter Freund António Victorino d’Almeida – ein irrsinniger Pianist –, beide fast 80 Jahre alt, in einem süffigen, leicht politischen Chanson-Programm. Ansonsten gibt es fast alles: Alte Musik und Uraufführungen, totale Klassiker und Raritäten, quer durch die Epochen. „Wir denken an die Besucher, die fast jedes Konzert sehen“, sagt Poppen. Deshalb die enorme musikalische Abwechslung. Und klar: Sie können es sich auch leisten, als kleines Festival zu spielen, was sie wollen. Einzig: Ein Ruheort ist Marvão für Banse und Poppen nicht mehr, zumindest nicht während des Festivals. „Er ist zum Arbeitsplatz geworden“, sagt Banse. Was für sie aber okay zu sein scheint. Sie lächelt.
Zu finden, etwas „fehle“ hier, kommt einem nach ein paar Stunden Stadtmauer-Spaziergang ein bisschen egozentrisch vor. Einem bildenden Künstler hätte wohl die bildende Kunst gefehlt, glaubt man, einem Schauspieler das Theater, einem Sportler der Mountainbikeverleih und eine Gleitschirmstation. Es ist ein allzumenschliches Dilemma: sich nach Ruhe sehnen und zugleich irgendwie unfähig sein, sie zu ertragen. Manche Künstler identifizieren sich scheinbar so sehr mit ihrem Beruf, dass sie nicht anders können, als irgendwie immer Künstler zu sein – was durch einen malerischen Ort wie Marvão noch verstärkt wird. Und möglicherweise ist es ihnen dann, als wählten nicht einmal sie selbst ihre Kunst, sondern die Kunst wählte sie. Es ist eben kein Können oder Dürfen – Künstler sein ist immer auch ein Müssen.
Die Minister, Präsidenten und Bürgermeister Portugals und der Region jedenfalls stoßen an auf die stetige Vergrößerung des einzigen mehrtägigen Klassikfestivals im Land. Für den Tourismus in Marvão ist es ein Segen. Christoph Poppen dagegen findet, noch größer sollte es eigentlich nicht werden. Schon jetzt wird schließlich der Platz eng, und irgendwie können die Festivaleltern mit ihrem kleinen Team auch nicht noch mehr stemmen als bereits jetzt schon. Sie machen daher bewusst keine kommerzielle Werbung.
Und dennoch kamen dieses Jahr rund 8000 Besucher an den zwölf Konzerttagen, wieder einmal über 1000 mehr als noch im vergangenen Jahr. Die Türen der Kirche São Tiago blieben am Abend des sechsten Festivaltags offen, damit die Leute auch in den Eingängen stehen und zuhören konnten. Wenn Banse und Poppen, wie an diesem Abend, selbst auftreten, kommen noch einmal deutlich mehr Fans als sonst – die Gemeinde aus befreundeten Musikern und einem langsam wachsenden Stammpublikum entwickelte sich schließlich um die beiden herum. Die Atmosphäre ist so vor allem eins: familiär und exklusiv. Auserlesen. Gourmet.
Fast alle Künstler, die Banse und Poppen anfragen, kennen sie bereits persönlich, eine ganze Reihe von ihnen ist seit mehreren Jahren dabei. Auch das Publikum wächst vor allem dadurch, dass Leute wiederkommen und andere mitbringen. Die Veranstalter haben sich so „ein echtes Musikpublikum“ herangezogen, wie sie sagen: Nach jedem Konzert wird begeistert im Stehen applaudiert, niemand klatscht zwischen die Sätze, beim Frühstück wird die Interpretation des Vorabends diskutiert. Man läuft sich ständig über den Weg. Wechselnde portugiesische Künstler und Musiker aus der Gegend stärken zudem die Bindung an das einheimische Publikum.
Die Bewohner von Marvão, sagt Banse, finden das Festival super: „Fast alle im Ort helfen bei irgendetwas mit.“ Sei es Karten abreißen, in der Künstlerkantine das Essen zubereiten oder Gäste vom Flughafen abholen. Alles ohne Bezahlung. „Den Künstlern können wir leider auch nur Freundschaftshonorare zahlen“, sagt Banse. „Sie treten hier auf für einen Bruchteil dessen, was sie sonst bekommen.“ Immerhin können sie umsonst alle Konzerte sehen. So ein Konzept kann man selbstausbeuterisch finden. Oder idealistisch. Meist bewegt es sich irgendwo dazwischen.
So eine Portion Idealismus ist in vielen Fällen nämlich gar nicht schlecht, oftmals ist sie der Grund für ungewöhnliche Programme und Interpretationen, die in kommerziellen und weniger zwanglosen Kontexten nicht entstehen würden.
Der Cellist Manuel Fischer-Dieskau beispielsweise – Sohn von Dietrich Fischer-Dieskau – spielte zusammen mit Tae-Hyung Kim an einem Tag alle Beethoven-Cellosonaten, Eins bis Fünf, in zwei Konzerten hintereinander weg. Fischer-Dieskau provozierte mit seiner energischen Bogenführung dabei auch mal einen etwas dreckigen Sound, der ganz fantastisch kontrastierte mit dem pastellfarbenen Goldrand-Katholizismus in der kleinen Kirche. Und Kim: technisch so brillant, dass einem der Mund offen stehen blieb. Die angeberischen Sechzehntelläufe und Akkordsprünge goss er scheinbar nebenbei aus dem Ärmel und konzentrierte sich auf das Wichtige in diesen Sonaten: die Form, den Bogen, die Geste, und – mit riesengroßen Ohren – auf die Kommunikation mit dem Cellisten.
Es gab – neben einigen typischen Sponsoren- und Publikumskitt-Abenden – einige solcher Highlights: wie Juliane Banse die „Lieder eines fahrenden Gesellen“ von Gustav Mahler sang, zum Beispiel, so voll fragiler Hoffnung und gebrochenem Trotz. Oder der Moment, in dem der 28-jährige Theorbist und Barock-Gitarrist Ricardo Leitão Pedro anfing zu singen, während er spielte, und man plötzlich zu verstehen glaubte, warum Kapsbergers, Castaldis, Giovanni Stefanis Lieder ganz genau so klingen müssen wie in genau diesem Moment in dieser kleinen Kirche: Als ginge es hier und jetzt ganz konkret darum, die Liebe dieser einen einzigen angebeteten Frau zu gewinnen. Existenziell. Nicht mehr und nicht weniger.
Einer der beeindruckendsten musikalischen Momente war aber das Konzert des Arcis Saxophon Quartetts in der Zisterne der mittelalterlichen Burg. Auf dem Programm standen unter anderem die Altungarischen Tänze von Ferenc Farkas und Bachs „Italienisches Konzert“. Die Version von Samuel Barbers „Adagio For Strings“ aber war, ohne Übertreibung, besser als das Original: Zusätzlich zu der Geschmeidigkeit gestrichener Töne gaben die vier Bläser den sich in Clustern und Sekundschritten verschiebenden Akkorden einen orgelähnlich durchdringenden Klang, farbiger und voluminöser als vier Geigen je sein könnten. Dazu ist die Akustik in dem ehemaligen Wasserspeicher einfach zum Niederknien.
Und: Ja! Der Ort ist umwerfend. Man kann ihn, wenn man einfach auf der Stadtmauer entlanggeht, fast komplett umrunden. Das Panorama ist so unvergleichlich, dass man mit dem Fotografieren relativ schnell aufhört: Man kann es sowieso nicht einfangen. Und auch nicht den orangerot gefärbten Himmel, wenn in der Konzertpause die Sonne untergeht, der aussieht, als sei er gemalt. Manchmal zwitschern die Vögel bis hinein in den Konzertraum, und beim Spazieren durch die Straßen hört man irgendwo einen Pianisten üben. Das ist unwirklich und zauberhaft und andererseits wahnsinnig schön.
„Das Prägendste ist am Ende nun einmal die Stadt“, glaubt Christoph Poppen. Wenn er sich da mal nicht täuscht. Er liebt sein Marvão. Und das versteht jeder, der einen Fuß dort hinein gesetzt hat. Doch die Eindrücklichkeit der Musik ist in einzelnen Fällen selbst davon unabhängig.
Nach ein paar Tagen hinter den mittelalterlichen Burgmauern ist die Antwort trotzdem gar nicht so leicht auf die Frage, was hier nun instrumentalisiert wird: der Ort im Dienste der Musik oder die Musik im Dienste des Ortes – oder ob das eine dem anderen nur ein bisschen mehr Tiefe verleiht? Vielleicht ist es aber auch gar nicht wichtig, das zu beantworten. Denn die kleine Glocke von São Tiago schlägt trotzdem. Unermüdlich. So oder so. Und das ist gut.
In Zukunft planen Juliane Banse und Christoph Poppen, aus dem Festival heraus eine Akademie zu entwickeln für Musik, bildende Kunst und Wissenschaft. Im besten Fall soll dort das ganze Jahr über und interdisziplinär gearbeitet werden.
Schon jetzt gibt es jedes Jahr das Festival-Orchester, in dem Studierende, fortgeschrittene Amateure und Profis jeden Alters und unterschiedlicher Nationalitäten miteinander spielen. Einige Studierende spielen auch solo und zusammen Konzerte an den Festival-Vormittagen.
Weitere Informationen zum FIMM gibt es online unter www.marvaomusic.de.