Von Malte Hemmerich, 05.07.2018

Unerwartet aktuell

Ein politisch aktuelles Festivalthema? Marcus Bosch will mit den Opernfestspielen Heidenheim keinesfalls auf einen kurzlebigen Zug aufspringen. Er möchte eine musikalisch nachhaltige Entwicklung für die kleine Stadt im Süden.

Nachdem Marcus Bosch sich als wohl prominentester Heidenheimer in den Festspielwochen durch den Frühstücksraum des Schlosshotels gegrüßt hat, ist der Dirigent und künstlerische Leiter der Opernfestspiele unverstellt ehrlich: „Ich würde lügen, wenn ich sage, ich habe unser diesjähriges Thema Zuflucht aufgrund der politischen Entwicklungen gewählt. Nein, das ergab sich einfach direkt aus den Stücken. Aber es gibt ja keine Zufälle im Leben.“

In Heidenheim setzt man seit einigen Jahren chronologisch die Verdi-Opern um. In diesem Jahr stehen „Nabucco“, die dritte Oper und Verdis Durchbruch, und „I Lombardi“, der Nachfolger, auf dem Programm. Ursprünglich geht es in „Nabucco“ um den Konflikt zwischen Juden und Assyrern und eine Liebe zwischen den verfeindeten Lagern. Der assyrische Anführer Nabucco wird dabei zum Spielball seiner falschen Tochter Abigaille, die versucht, ihn für ihre Zwecke zu manipulieren. Alles höchst aktuell, denn es geht um Religion, verfolgte Volksgruppen und den Missbrauch von Macht. Ob solch gewichtige Themen gut rüberkommen, wo die „Nabucco“-Premiere, mit rotem Teppich und Promifotografen, nach außen doch eher nach oberflächlicher Bespaßung aussieht?

Gerade hier in Heidenheim scheinen die Debatten und Probleme der Welt, ja sogar die des Landes, weit entfernt. „Kleine heile Welt“ heißt die Kneipe am Heidenheimer Bahnhof, und ja, die Stadt an der Brenz ist schon ein romantisches Fleckchen Erde. Hoch über den Häusern thront die Schlossruine Hellenstein, und in ihren Ruinen liegt das Herzstück der Opernfestspiele: eine gewaltige Tribünenkonstruktion im ehemaligen Rittersaal, mit Blick auf die Open-Air Bühne.

Aufgeregt schwirren die Mitarbeiter umher, denn ausgerechnet eine Stunde vor Vorstellungsbeginn fängt es an zu schauern. Ausfallen muss zwar keine Vorstellung in Heidenheim, denn nur ein paar hundert Meter von der Ruine entfernt steht ein modernes Konferenzcenter mit grandioser Akustik, aber das ist eben nicht dasselbe wie Open Air-Oper. Im letzten Jahr hatte man dort bis auf einmal den Holländer spielen müssen. Diesmal aber will man standhaft bleiben. So trocknen Mitarbeiter emsig jeden Sitz und verteilen Papierhandtücher an die ausstaffierten Gäste, die bereits über den Roten Teppich spazieren. Auch das letzte Problem, die nicht mehr funktionierende Notenpultbeleuchtung, bekommt das Team gemanaged, sodass es mit halbstündiger Verspätung im Rittersaal losgehen kann. Die Stuttgarter Philharmoniker unter der Leitung von Bosch starten mit der Ohrwurm-Ouvertüre.

Regisseurin Helen Malkowsky zeigt eine jüdische Familie rund um die Bar Mizwa-Feier, die assyrische Gefahr droht indes von innen. Nabucco ist der immer noch kriegswilde, religionskritische Großvater. Einen Anschlag gibt es auch, und oft flirren dabei Nahost-Krisenbilder über die LCD-Bildschirme. Die Inszenierung spielt insgesamt stark mit Andeutungen, und mit der medialen Ebene, die Falschmeldungen über Kameras und Nachrichtensendungen laufen lässt, wird zudem ein recht großes Fass aufgemacht. Aber so richtig bedrohlich und konkret wird Malkowsky auch beim ernsten Thema „Fake News“ nicht. Knallige Showmaster-Kostüme und buntes Licht beispielsweise lassen die Inszenierung immer ironischen Abstand wahren. Warum etwa wird gerade der kleine, offensichtlich tief religiös erzogene Junge Nabuccos Nachfolger? Der Spagat zwischen Familienkrise mit religiöser Missgunst und einer Fake-News-Staatskrise ist überdehnt: Eine Konzentration auf einen dieser Bereiche hätte der Inszenierung wohl mehr Tiefe und Nachwirken verliehen.

Sängerisch bewegt sich alles auf gutem Niveau, Antonio Yang ist ein wandelbarer, kraftvoller Nabucco, Ira Bertman und Katerina Hebelkova singen dramatisch und umwerfend, dabei technisch perfekt ihre Abigaille und Fenena. Einzig Adrian Dumitru kann als Ismaele mit engem Vibrato nicht immer Gehör finden auf der Freiluftbühne.
Bosch hält dieweil den Laden zusammen, gibt zu den Phrasierungen hier unter freiem Himmel etwas mehr „Schmiere“ hinzu, wie er selbst sagt, damit die Enden nicht verpuffen.
Weltklasse ist der Philharmonische Chor Brünn, der dann auch die Schunkelszene des Abends hat, den berühmten Gefangenenchor, der hier schön unkitschig in Szene gesetzt ist.

Malkowsky lässt die Chorsänger nur als Schemen auf einem Gerüstbau singen, langsam scheinen sich Gesichter aus dem Dunkel zu formen, dann aber doch nicht. Dazu scheint, wie bestellt, ein blutroter Mond. Die gesichtslose Menschenmasse, die ihre Heimat besingt, ist dementsprechend auch eine der stärksten Szenen des Abends. Mit dem Metathema „Zuflucht“ im Hintergrund denkt hier wohl manch einer an die anonymen Toten auf der Mittelmeer-Route oder an im Schnellverfahren abgeurteilte Asylsuchende. Doch plakative Elemente, die auf aktuelle Debatten hindeuten, hat sich Malkowsky gespart, lässt viel Interpretation und Kopfkino zu.

Das passt zur mythisch verklärten Oper „Nabucco“, in die die Nachwelt viel politische Sprengkraft hineingeschrieben hat, etwa in den Einigungskriegen und bei der Findung einer italienischen Nationalität, während Verdi eine solche Absicht nie bestätigt hat. „Ob wir in Verdis Sinne deuten, weiß ich nicht. Aber seine Abkehr vom Belcanto, dass er die Stimme auch mal hässlich röcheln lässt und die Wahrhaftigkeit der Darstellung sucht: Ich glaube, Verdi würde moderne Deutungen nicht ablehnen“, sagt Bosch. Und auch wenn die Inszenierung auf den erfahrenen Regietheaterkenner wohl wenig aufregend wirken mag – für Heidenheim, wo vor 20 Jahren noch darüber diskutiert wurde, ob eine Katholikin und ein Protestant heiraten dürfen, sei eine ansatzweise politisch-religiös aufgeladene Deutung ein weiterer großer Schritt. Aber passt das auch zu einem Festival, welches viele Besucher ja augenscheinlich des reinen Genusses wegen besuchen? „Ich möchte, dass die Opern hier Gesprächsthema werden. Wenn das dann bei einem Galadinner passiert, warum nicht.“

Zuflucht, das kann und sollte eben auch positiv besetzt sein. Nun könnte man bestens darüber diskutieren, auch auf Podien oder Bühnen in Heidenheim. Doch Symposien und Diskussionsrunden, das sei allzu oft ein Feigenblatt, findet Bosch. Und nicht zielführend. Bei den Opernfestspielen soll sich erstmal alles aus der Musik selbst erschließen, und aus den Inszenierungen. Hier, so Bosch, sei der Plan, jedes Jahr ein bisschen mutiger zu werden.

Die Opernfestspiele 2018

Neben den beiden Opern, dem Blockbuster „Nabucco“ (7.,13.,14.,18. Juli, jeweils 20 Uhr u.a.) und der frühen Verdi-Oper „I Lombardi“ (Donnerstag, 19. Juli 2018, 20 Uhr und Freitag, 20. Juli 2018, 20 Uhr immer im Festspielhaus) spielt das eigene Festspielorchester Cappella Aquileia eine Gala mit Werken von Beethoven am 8. und 9. Juli. Aber auch Kammermusik mit dem Goldmund Quartett kann man im Schloss erleben, gegen Ende am 25. Juli.
2019 wird dann die Verdi-Reihe mit „Ernani“ fortgesetzt, Open-Air wird „Le nozze di Figaro“ gespielt.

© Oliver Vogel
© Malte Hemmerich


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