Was für ein hochbarockes Prachtstück! Das Fundament ist der Bass. Immer vier Noten verbünden sich in ihrem Abstieg, ehe die nächsten vier sie ablösen. Diese ganztaktige Drehorgel nistet sich sofort im Ohr ein und schwindelt Ordnung vor, bis eine glasklare Stimme dazwischen fließt.
Der Countertenor Raffaele Pe, der die Rolle des Evangelisten übernimmt, ist klangverliebt, gerade die sachten Notenpassagen gewinnen. Minimale Tonschleifer werden zum Gelenk zwischen den Phrasen, und so ist alles aus einem Guss, der schmerzerfüllter nicht sein kann. In den drängelnden Rezitativen verliert er den hypnotischen Charakter, die Stimme kiekst unkontrolliert, der Klang wird blechern. Die Passion lebt gottlob maßgeblich von zwei weiteren Gesangskumpanen: Die Rolle des Christus übernimmt der Tenor Luca Cervoni, und Pilatus singt der Bass Marco Bussi, doch beide kommen nur selten zu Wort. Cervoni tritt hinter das Werk, entdeckt sein Herz für das Wortmaterial und ergötzt sich nicht an aufmerksamkeitsheischendem Virtuosentum, sondern bleibt solide. Bussi ist der narrative Motor des Geschehens, wenn er singt, braucht es nicht einmal ein kleines Latinum, um die Handlung nachzuvollziehen. Draufgängerisch prasselt seine aufgeraute Stimme durch das Werk.
Es ist keine Referenzaufnahme, aber allemal hörenswert, nicht zuletzt weil sie beweist, dass sich auch in der Klassik die Karten neu mischen können, denn auch nach 300 Jahren ist der „Meisterwerk-Status“ nicht in Stein gemeißelt. Dachte man ja bis vor kurzem, dass Alessandro Scarlattis „Johannespassion“ die einzige Passions-Vertonung aus dem italienischen Barock ist, so wurde man eines Besseren belehrt. Es schlummern sicherlich noch etliche Werke in den Archiven, die Spürnasen dazu einladen, die Sedimentsgesteinchen wegzupusten. Die „Capella Neapolitana“ und Antonio Florio leisten Pionierarbeit in der Wiederaufführung alter Werke, vor allem von Veneziano. Auch wenn sie dabei nicht immer musikalisch das Rad neu erfinden.